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Scheherazade am Polyball vom 1. Dezember 2012

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Links: Lang, Candid: Polyball, 1955 (Com_M06-0352-0005). Rechts: Brechbühl, Polyball, 16.11.1957 (Com_M06-0352-0027) 

Der Polyball ist ein traditioneller Festanlass an der ETH Zürich. Er findet alljährlich Ende November statt und ist ein klassischer Ball. Die genaue Datierung des ersten Polyballs ist unbekannt. Man nimmt an, dass er seit den 1880er-Jahren durchgeführt wird.

Links: Brechbühl, Polyball, 16.11.1957 (Com_M06-0352-0024). Rechts: Lang, Candid: Polyball, 1955 (Com_M04-0302-0009) 

1897 wurde der Ball, der damals noch „Akademie“ hiess, erstmals im Stadttheater – dem heutigen Opernhaus – veranstaltet. 1900 erfolgte der Umzug in die Tonhalle. Während dieser Zeit entwickelte sich der Ball zu einem Anlass, der fortan einen festen Platz im Zürcher Gesellschaftsleben einnahm. Regelmässig nahmen hochkarätige Gäste, bisweilen sogar Bundesräte, an den Festlichkeiten teil. Seit den 1950er-Jahren wird ausserdem für jeden Ball ein eigenes Motto entwickelt und die Räumlichkeiten entsprechend dekoriert.

Links: Lang, Candid: Polyball, 1955 (Com_M04-0302-0010). Rechts: Lang, Candid: Polyball, 1955 (Com_M04-0302-0012)

Im Laufe der Zeit wechselte der Ball öfters seine Lokalität. Standorte waren die Zürcher Tonhalle, das Grand Hotel Dolder, das Zürcher Messegelände und das Hauptgebäude der ETH. Letzteres ist seit über 30 Jahren Austragungsort und wird dies wohl auch in Zukunft bleiben.

Der diesjährige Polyball  findet unter dem Motto “Scheherazade – 1000 Geschichten und eine Nacht” am Samstag, 1. Dezember 2012 im Hauptgebäude der ETH im Zentrum Zürichs statt.

Weitere Bilder sind im Wissensportal oder über das Bildarchiv online öffentlich zugänglich.


C’est plat. C‘est long. C’est gris. C’est moche. C’est le Poly – studierende Überlebenskünstler aus der Romandie

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Vielleicht Willy Prêtre, der spätere Schriftsteller Willy-André Prestre (1895-1980). Namenloser Student aus dem Fotoalbum „1921 Bau-Ing. Abteilung der Eidg. Techn. Hochschule Zürich“ (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_16195-066-AL) 

Flachgebaut, langgestreckt, grau und hässlich: Das Poly. Es gibt dort blonde, schmissverzierte Kugelköpfe; schwarze Borstenschöpfe; hochaufgeschossene Jammergestalten, die vornübergebeugt einhergehen; spindeldürre Kleine, die sich bolzgerade ins Kreuz werfen; Brillen, viele, viele Brillen, hinter denen die unersättlichen Augen wohlgenährter Fresssäcke funkeln: Die intellektuelle Jugend. All das […] ist die Hoffnung des Landes. Schön ist es anzusehen, das Land.

So beginnt in der deutschsprachigen  Ausgabe die „Bohème escholière“, die romanhafte Erinnerung von Willy-André Prestre an seine Studienzeit. Die beiden Freunde Bill und Kiki aus der welschen Schweiz wollen Ingenieur werden. Ein ehrenhafter Beruf für richtige Männer. Leider ist das Ziel nur mit Disziplin zu erreichen. Also hören sie regelmässig Vorlesungen auf Deutsch in kaum verständlichem Wissenschaftsjargon mit langen, gewundenen Sätzen, den „Klapperschlangen“, und absolvieren Konstruktionsübungen im Zeichensaal nach Vorschrift. Dabei plagt sie Heim- und Fernweh, lieber würden sie Enten jagen in freier Natur. Die Wildenten, Umschreibung für uneingeschränktes Leben und unbegrenzte Phantasie, durchziehen als Leitmotiv das ganze Buch.

 

Ritt auf der Wildente: Die Phantasie im Zaum halten oder ihr die Zügel schiessen lassen? Illustration von Willy-André Prestre in Bohème escholière, Neuchâtel 1937, Seite 35.

Allerdings sind die existentiellen Grundbedürfnisse die eigentlichen Triebfedern des Handelns. Besonders der Hunger. Während wohlhabende Studenten sich für horrende 5 Franken in noblen Restaurants verköstigen, ernähren sich die zwei, stets knapp bei Kasse, in einem alkoholfreien Lokal des Zürcher Frauenvereins von Rösti mit Sauce für 25 Rappen oder Rösti ohne Sauce für 20 Rappen. Fehlt das Geld ganz, sind sie auf Proviantpakete der besorgten Mütter angewiesen und den regen Erfindungsgeist von Kiki. Sie vergreifen sich am Vorrat eines kranken Kollegen, fangen Tauben im Park, füllen die Leere des Magens mit Wasser, gaukeln sich mit Autosuggestion Sättigung vor. Zwar essen sie alkoholfrei, doch im geselligen Kreis mit Kameraden aus der Westschweiz schauen sie gerne tief ins Glas. Im Unterschied zu deutschsprachigen Studentenvereinen betrinken die Romands sich aber nicht mit Bier, sondern selbstverständlich mit Wein aus der Heimat und sogar Champagner.

Wie für unverheiratete Männer fern von zu Hause üblich, wohnen Bill und Kiki zur Untermiete bei Witwen, die mit der Miete ihr Auskommen bestreiten oder aufbessern. Zunächst nächtigen sie bei einer Schlummermutter mit heiratsfähigen Töchtern, die nach einer guten Partie unter den Mietern Ausschau halten. Wegen fremden Damenbesuchs erhalten die Freunde die Kündigung und kommen dank Hochstapelei kurzfristig bei der nächsten, sich vornehm gebenden Zimmerwirtin unter. Auch von dieser werden sie an die Luft gesetzt, als sie merkt, dass sie auf zwei sich als Aristokraten ausgebende arme Schlucker hereingefallen ist. Schliesslich richten sich die Ingenieurstudenten mit ausrangierten Möbeln verstorbener Verwandter im Estrich von Handwerksleuten ein, nachdem sie zuvor das dort hausende Gespenst, eine Ratte, heldenhaft erlegt haben. Zwei junge Französinnen, die sie wenig später vor den Nachstellungen durch Burschenschafter einer schlagenden Studentenverbindung retten, leisten ihnen im neuen Logis Gesellschaft. Den Kameraden von Bill und Kiki gefällt die unkonventionelle Bleibe, dennoch ist ihnen das schräge Abbild gutbürgerlicher Häuslichkeit nicht geheuer. Die Idylle, aus heutiger Sicht eine studentische Wohngemeinschaft avant la lettre, entspricht nicht der verbreiteten Norm. So kann man kein Diplom vorbereiten. Tatsächlich verschlafen Bill und Kiki im gemütlichen Heim die Vorlesungen, schreiben die Unterrichtsnotizen von ihren Kollegen ab oder lassen sie gar abschreiben von den Hausfreundinnen. Die Wildenten haben ihr Nest gefunden, wie der Autor schreibt.

Aber das Schlussexamen droht. Die zwei Bummelanten stürzen sich knapp davor auf den versäumten Lernstoff, überstehen – sie wissen nicht wie – die mündlichen Prüfungen. Dann folgen die Diplomarbeiten mit endlosen Berechnungen. Für die Anfertigung der zugehörigen Planzeichnungen bieten sie, wie es Brauch ist, ihren Freundeskreis auf. Nach vollendeter Arbeit gehen die beiden Prüflinge endlich wieder einmal aus. Doch als sie zurückkehren, sind die Diplomarbeiten verbrannt. Die Hausgenossinnen haben das Ende der gemeinsamen Idylle um ein halbes Jahr bis zum zweiten Diplomversuch hinausgeschoben.

Das Werk kam vor 75 Jahren, am 17. Dezember 1937, frisch aus der Druckerei. Gerade noch rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft der Buchhandlungen. Oder vielleicht doch nicht, denn der Urheberrechtsvermerk datiert von 1938.

 

Handschriftliche Anmeldung von Willy Prêtre zum Studium in der Abteilung für Bauingenieure an der ETH (ETH-Bibliothek, Archive, EZ-REK1/1/16016)  

Der Autor spielt augenzwinkernd mit Klischees und Kitsch. Was ist erfunden, was nicht? Willy-André Prestre schrieb sich als Willy Prêtre im Herbst 1915 an der Abteilung für Bauingenieure der ETH ein. Die Rubrik „Unterschrift des Vaters bzw. Vormundes“ auf dem Anmeldeformular wurde von seiner Mutter unterzeichnet. Nach dem ersten Semester war er für ein Jahr beurlaubt wegen Militärdienst, wie seiner Matrikel zu entnehmen ist. Trotz langer Studienabwesenheit wagte Prêtre im Herbst 1917 die erste Vordiplomprüfung und fiel durch. Im Konferenzprotokoll der Bauingenieurabteilung vom 18. Dezember 1917 vermerkte der Aktuar, „Prätre [durchgestrichen], Prêtre“ habe wegen ungenügender Leistungen bei der schon zum zweiten Mal abgelegten Prüfung „das Recht zur Zulassung zu weiteren Prüfungen verwirkt.“  Offensichtlich ein Irrtum. Prêtre versuchte es im nächsten Frühling noch einmal, diesmal erfolgreich. Für das folgende Studienjahr war er krankgeschrieben, möglicherweise wegen der damals in der Schweiz grassierenden Grippe. Immerhin blieb ihm genügend Energie zur Vorbereitung der 2. Vordiplomprüfung, die er im Frühjahr 1919 bestand.  Neben den Pflichtveranstaltungen belegte er in den Freifächern während der ganzen Studienzeit Vorlesungen zur aktuellen französischen, belgischen und englischen Literatur sowie zur neueren Geschichte Europas und des nahen und fernen Ostens. Am 26. März 1921 erhielt er ein Abgangs-Zeugnis mit der Bemerkung „Über das Verhalten liegen keine Klagen vor“. Allerlei in der Bohème escholière beschriebene Ungehörigkeiten waren somit nicht bis zu den ETH Autoritäten gedrungen oder entsprangen dichterischer Freiheit. Hingegen hält die Verfügung des Schulratspräsidenten vom 19. Juli 1921 fest, dass 18 Kandidaten, darunter Willy Prêtre, wegen ungenügender Prüfungsergebnisse das Diplom als Bauingenieur nicht erteilt wurde. Er versuchte es nochmals. Die Bohème escholière erzählt, dass für die schriftliche Diplomarbeit ein Bahnteilstück der Lötschberglinie zu konstruieren sei. Tatsächlich hatte die Abteilungskonferenz der Bauingenieure am 21. Juli 1921 für die nächste Abschlussarbeit die Aufgabe festgelegt: „Die Nordrampe der Lötschbergbahn als Linie gleichen Widerstandes“. Sein Diplom erhielt Prêtre dann endlich mit der respektablen Schlussnote 5.07 am 11. Januar 1922 .

Wie der weitere Lebensweg zeigt, war die polytechnische Zähmung aber nur teilweise gelungen, Prêtre blieb ein Wildenterich.

Im Bildarchiv der ETH-Bibliothek wird ein Erinnerungsalbum aufbewahrt mit Fotos von etwa der Hälfte der Studierenden, die 1921 den letzten Kurs der Bauingenieurabteilung besuchten. Darunter sind auch solche, die wie Prêtre erst im zweiten Anlauf das Diplom schafften. Ganz am Schluss sind zwei Bilder ohne Namensangaben eingeklebt. Das eine könnte verglichen mit dem Altersbildnis Prêtre zeigen. Wenn da nur nicht diese scharfe Linie quer über die Schläfe wäre: ein Schmiss. Ausgerechnet, wo doch Prestre in seiner Bohème escholière die seltsamen Duellgebräuche der schlagenden Studentenverbindungen kapitellang verspottet.

Nachweise:

Willy-André Prestre, Bohème escholière, Neuchâtel 1937

Willy-André Prestre, Scholarenblut. Erinnerungen eines Polytechnikers, übers. Duri Troesch, Bern 1944

Konferenzprotokolle der Abteilung für Bauingenieure, ETH-Bibliothek, Archive, Hs 1072:3  

Willkommen auf einer Reise in die Vergangenheit: 1835 mit Arnold Escher am Parpaner Rothorn und im Oberengadin

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“… bis hinauf zu den höchsten schroffen Pyramidenfelsen des Piz de Graves …“. Zeichnung von Arnold Escher vom 31.8.1835: Ansicht der Gebirge nordwestlich des Silsersees von der Anhöhe ob Isola, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:436, doi: 10.7891/e-manuscripta-3165

Es sind einmalige Zeichnungen und Briefe sowie geologische Tagebücher, die im Nachlass des bedeutenden Schweizer Geologen Arnold Escher liegen. Die Zeichnungen und der umfangreiche Bestand wissenschaftlicher Briefe sind digital öffentlich zugänglich auf www.e-manuscripta.ch. Sie bilden einen der Schwerpunkte dieser neuen kooperativen Plattform, über die die Zentralbibliothek Zürich, die Universitätsbibliothek Basel und die ETH-Bibliothek ausgewählte digitalisierte Archivbestände präsentieren. Das online verfügbare Material lädt dazu ein, in die Vergangenheit zu reisen und den Spuren Arnold Eschers zu folgen.

Es ist Hochsommer. Wir beginnen unsere Reise am 12. August 1835 und wählen eine Route, auf der man von Chur nach Parpan aufsteigt, später auf geologisch sinnvollem Weg Täler und Pässe bis nach Sondrio im Veltlin quert, über den Murettopass den Malojapass erreicht und hinab nach Sils gelangt, sowie weitere Stationen anvisiert. Am Dienstagabend trifft Bernhard Studer, Professor für Geologie in Bern, in Zürich ein, um Arnold Escher „zur Reise nach Bündten“ abzuholen. Der junge Geologe Arnold Escher von der Linth wird zusammen mit Bernhard Studer einen Monat lang durch Graubünden wandern und die geologischen Verhältnisse studieren. Bernhard Studer hat Arnold Escher am 27. Juni sein Vorhaben ausgeführt. Arnold Escher solle ihn begleiten: „Sie sehen, wie nothwendig da Ihre kunstfertige Hand wäre, wie schade, wenn diese merkwürdigen Gegenden durch meine Pfuscharbeiten entstellt würden.“ (Hs 4:1697, doi: 10.7891/e-manuscripta-8906). Ende Juli muss Studer nachdoppeln: „Schütteln Sie ja alles ab, um diese Reise möglich zu machen.“ (Hs 4:1698, doi: 10.7891/e-manuscripta-9213) Arnold Escher war im Jahr zuvor Privatdozent für Mineralogie und Geologie an der neu gegründeten Universität Zürich geworden. Während seiner Exkursionen fertigt er Notizen zum Reiseverlauf und zu den vor Ort gewonnenen geologischen Erkenntnissen an. Die an Ort ausgewählten und mitgenommenen geologischen Handproben hält er ebenfalls als Randnotizen fest.

Der Postwagen bringt die zwei Reisenden nach Chur. Später nehmen sie die Strasse in Angriff, die über „Churwalden und Parpan nach Tiefenkasten führt“. Arnold Escher notiert: „In Parpan besuchte ich sogleich Herrn Hauptmann Perini, welcher sogleich sein Möglichstes that, mir einen guten Träger zu verschaffen, indem der in Chur angenommene bereits ganz marode war. Da er aber einen solchen nicht vor dem Abend verschaffen konnte, so beschlossen wir den Tag zu einer Excursion aufs nahe liegende Rothorn zu verwenden.

In aller Eile zeichnete ich von einem nahe liegenden Hügel die Ansicht der Rothornkette deren südlichster Stock das Lenzerhorn ist. An diesem sah man jetzt bei günstiger Beleuchtung sehr deutlich die im vorigen Jahr von Herrn Studer zuerst beobachtete Auflagerung des Hornblendgesteins der Rothornkette auf Kalkstein. – V[ide]. d. Skizze.“

Ausschnitt aus der Skizze der Rothornkette: Parpaner Rothorn und Lenzerhorn, 14.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:398, doi: 10.7891/e-manuscripta-3419

Diese Ansicht ist auch auf der folgenden, nicht weiter datierten Zeichnung zu sehen.

Ansicht der Rothornkette von Parpan aus, ohne Datum, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:399, doi: 10.7891/e-manuscripta-3486

Die erste Arbeit noch in Parpan ist getan, nun steht der zusätzlichen Exkursion am Rothorn nichts mehr im Wege. Nachdem die Reisegruppe bereits bedeutend an Höhe gewonnen hat, muss der Rückzug beschlossen werden, angesichts des abschüssigen Geländes und zahlreichen Nebeln auf Gipfelhöhe. Auch so können geologische Überlegungen angestellt werden. Die Untersuchung wird nun auf die Flanken des Weisshorns und des Schwarzhorns ausgedehnt. „Bei heransinkender Dämmerung stiegen wir fortwährend über Alpweiden wieder nach Parpan hinunter.“

Die folgende Zeichnung ist wohl ebenfalls am 14. August oder dann am 15. August entworfen worden, die originale Datierung ist nicht eindeutig.

Ansicht der Kette des Rothorns ob Parpan, 14. oder 15. August 1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:397, doi: 10.7891/e-manuscripta-3463

Am Morgen des 15. August stösst ein neuer Träger zur Reisegruppe, die über den Einschnitt des Grats zwischen Rothorn und Weisshorn ins Arosertal weiter will. Nach dem anstrengenden Aufstieg wird pausiert. Arnold Escher notiert: „Steil stiegen wir dann aus diesem Thälchen über ähnlichen Kalkstein und in Mergelschiefer übergehenden Thonschiefer zu dem Einschnitt des Grates hin auf, welcher zwischen den Kuppen des Rothorns und Weisshorns liegt… Die Rastzeit benutzte ich, um einige Theile der Aussicht zu entwerfen.“

Vom Passe zwischen Parpaner Weiss- und Rothorn gegen das Arosatal, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:396, doi:10.7891/e-manuscripta-3437

Auf dem Pass ist die Sicht auf die Bergketten nur ganz ferne von etwas Wolken getrübt, sonst zeigen sich in beide Richtung wunderschöne Panoramen, die Arnold Escher zeichnet und im Tagebuch beschreibt.

Hoch ob Parpan vom Abhang des Rothorns gegen Westen, August 1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:406, doi: 10.7891/e-manuscripta-3052

Die Reisegruppe macht sich auf den Weg nach Arosa. Der Abstieg führt über Halden und Abhänge hinunter zu den Seen im Arosertal.

Ob dem obersten Arosa-See gegen den Talhintergrund des Arosa-Thals. „Standpunkt weiter thalaufwärts als bei der grossen Skizze”, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:394, doi: 10.7891/e-manuscripta-3483

Der Marsch talwärts geht weiter, eine nächste, grosse Skizze entsteht, mit noch einmal Blick zurück zum eben bewältigten Pass.

Oberhalb dem obersten Arosa-See gegen den Talhintergrund, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:395, doi: 10.7891/e-manuscripta-3117

 Endlich in Arosa angelangt, treffen die Forscher dort in den Häusern keinen Menschen an. „Alle waren ausgezogen, die Heuernte zu besorgen und schienen nicht die geringste Lust zu haben, sich um uns zu bekümmern. Unter einem Vordach verzehrten wir indess behaglich den Rest unserer Lebensmittel.“

Von Arosa gegen Westen, Teufbodenalp, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:392a, doi: 10.7891/e-manuscripta-3261

Von Arosa gegen NE an die Kette zwischen Arosa u. Davos, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:393, doi 10.7891/e-manuscripta-3002

Die letzte Wegstrecke des Tages führt wohl ober übel bis nach Langwies. Auf einen Streifzug Richtung Tschiertschen, zu dem die Berg- und Felsrücken einladen, wird verzichtet und entschieden, mehr oder weniger direkt nach Langwies zu gehen.

„Eine missverstandene Angabe über den Weg liess uns länger am linken Ufer bleiben als wir eigentlich gesollt hätten. Wir erstiegen eine kleine Höhe … und wurden überrascht durch eine schöne Profilansicht der uns gegenüber liegenden Felswand. Vide die Skizze“. Im Tagebuch ist zudem notiert: „An den höheren Theilen des Abhangs dagegen ragten zwischen der Waldung wieder bedeutende Massen von hellfarbigem Kalkstein aus.” Vermutlich ist das folgende Bild die beschriebene Skizze, vielleicht ist es auch zusätzlich entstanden.

Am Auslauf des Arosatals gegen das Schanfigg, 15.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:392b, doi: 10.7891/e-manuscripta-2791

„Sehr zufrieden mit diesen kleinen Umwegen stiegen wir wieder zum Bach hinunter“. Bald darauf ist das Dorf Langwies erreicht. Die Forscher finden „bei dem 70jährigen, sehr gefälligen Junker Daniel Bellizzari, Landammann, sehr wohl wollende Aufnahme“. Tags darauf muss Arnold Escher heftigen Regen vermerken, „so dass wir keinen Schritt aus dem Zimmer thaten. Zeichnen.“

Das noch bis Mitte September geplante Exkursionsprogramm ist anspruchsvoll – die Reise führt bis zum 12. September über nicht wenige Stationen weiter, die in gleicher Weise dokumentiert sind. Allein die klein gehaltene Reinschrift der Reisebeschreibung, die im Tagebuch II (Hs 4a:245) eingebunden ist und aus dem die Zitate entnommen sind (S. 88, 91, 95f, 100, 102f, 150f), umfasst für diese Bündner Exkursion hundert Seiten.

Als Abschluss dieser Schilderung hier treffen wir die Reisegruppe wieder, als sie von Maloja her kommt. Gerade wird die Ankunft in Sils eingetragen, am 30. August 1835, „bei eingebrochener Nacht“, zur Unterkunft „bei der Casa, die bereits seit mehr als 200 Jahre Eigenthum derselben Bündtner Familie ist, ein gutes, aber klosterartiges Unterkommen.“ Die nächste Zeit ist geologischen Studien des Oberengadins gewidmet. Am 31. August geht es „von Sils quer durch die Ebene des Thales des Inn nach dem unbekannten, aber schönsten Ort des Oberen Engadins, S. Maria. Die ganze Ebene mit Reif bedeckt.“

Es scheint, dass der Zauber der Landschaft an diesem Tag mächtig wirkt. Die weiss bedeckte Höhen und die glänzenden Gletschermassen ziehen die nächsten Stunden alle in Bann.

Für die bereits zu Beginn angeführte Zeichnung für das nordwestliche Ufer des Silsersees vermerkt Arnold Escher: „Auf den Höhen jenseits des Val d’Isola geniesst man eine ausgezeichnet schöne Übersicht des so merkwürdigen N.W. Ufers des Silsersees bis hinauf zu den höchsten schroffen Pyramidenfelsen des Piz de Graves und der südwestlichen Fortsetzung seines Kammes, die Ober Engadin und Oberhalbstein trennt. Die Zeichnung, die ich dort entwarf, gibt die beste Erläuterung dieser Ansicht“.

Sicht gezeichnet von einer Anhöhe südöstlich ob Isola, mit Kolorierung der Gesteinsarten, 31.8.1835, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4c:436, doi: 10.7891/e-manuscripta-3165

 

 

Fragwürdiges Schlagzeug: Der Hammer des Geologen Eduard Suess

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Hammer von Eduard Suess (ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv. Foto: Lisa Oberli)

Warum, wann, wie kam der Hammer des österreichischen Geologen Eduard Suess (1831-1914) in die Schweiz, nach Zürich, an die ETH-Bibliothek? Ein aufmerksamer Mitarbeiter vermerkte 1987 in einem internen Zettelkatalog die Existenz des Werkzeugs. Die Beschriftung „E Suess“ auf dem Schaft unterhalb des Hammerkopfes hatte ihn auf die Spur des ursprünglichen Besitzers geführt. Doch eine Zuordnung zu einem der in die ETH-Bibliothek gelangten Nachlässe von Geologen oder zu Archivalien aus dem Geologischen Institut fehlt.  

Eduard Suess (1831-1914), Professor an der Universität Wien, sammelte selber Steinklopfgeräte aus dem Besitz seiner Kollegen, darunter auch von Arnold Escher von der Linth (1807-1872)  und von Albert Heim (1849-1937) , beide nacheinander Inhaber der Doppelprofessur für Geologie an der Universität und an der ETH Zürich. Wie Suess zu den Sammlungsstücken kam, scheint heute nicht mehr in jedem Einzelfall nachweisbar zu sein. 

Detail des Hammers von Eduard Suess: „Marteau offert par Suess“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv. Foto: Lisa Oberli) 

Laut einer mündlichen Überlieferung sollen Albert Heim und Eduard Suess ihre Hämmer getauscht haben. Die französische Beschriftung mit Tinte am Ende des Stiels von Suess‘ Hammer an der ETH-Bibliothek, „Marteau offert par Suess“, will zu dieser Überlieferung allerdings nicht so recht passen. Weshalb hätten zwei deutschsprachige Geologen ihr Tauschobjekt französisch beschriften sollen? Wer also beschriftete den Hammer und zu welchem Zeitpunkt? 

Ein Geologenhammer war zudem kein beliebiger Alltagsgegenstand, sondern ein Spezialinstrument, abgestimmt auf den Forschungsbereich und die persönlichen Bedürfnisse des oder der Forschenden. Ein Tausch wäre somit für beide Seiten ein Verlust des für die eigene Arbeit tauglichsten Instruments gewesen. Wenn ein Tausch stattfand, dann wohl kaum leichtfertig, sondern eher aus besonderem Anlass. 

Solche Anlässe bot seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kontroverse über den Bau der Alpen. Heim arbeitete eine von seinem Vorgänger Escher erwogene Deutung der verkehrten Altersabfolge von Gesteinsschichten im Glarner Gebirge systematisch zur Doppelfaltentheorie aus. Doch 1884 interpretierte der französische Geologe Marcel Bertrand (1847–1907) die präzisen Aufzeichnungen Heims um zu einer einheitlichen Schubmasse. Während Heim unbeirrt an der bisherigen Erklärung der Glarner Gebirgsformation festhielt, war Suess spätestens 1892 nach einem Augenschein in den Glarner Bergen von der neuen Idee angetan.

Die Vorstellung ist reizvoll, daraufhin habe der hinkende Heim mit dem flammend roten Bart seiner Jugendzeit – eine perfekte Verkörperung des antiken Feuer- und Schmiedegottes Hephaistos oder Vulcanus – wutentbrannt seinen Hammer dem treulosen Suess vor die Füsse geschleudert. Er hätte in einem solchen Moment den Hammer des Kollegen wohl kaum als Gegengabe akzeptiert.

 

Albert Heim, 1889 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_06339)

Tatsächlich reagierte Heim gelegentlich rabiat auf Zweifel an seiner Doppelfaltentheorie. Einem langjährigen Kritiker verweigerte er zum Beispiel kurzerhand die Teilnahme an der von ihm geleiteten Exkursion während des Internationalen Geologenkongresses 1894 in Zürich. Mutmasslich aus Rücksicht auf seinen Zürcher Gastgeber stimmte Suess nur zögernd zu, an diesem Kongress einen Vortrag zu halten, und lehnte dessen Publikation rundweg ab. Solche Vorkommnisse widersprechen  den „Erinnerungen“ von Suess, in denen er schreibt, Heim habe 1894 die neue Erklärung der Glarner Gebirgsformation akzeptiert. 

Ein Hammertausch 1892 oder 1894 zwischen Heim und Suess wäre hingegen denkbar als Bekräftigung der bisherigen gegenseitigen Wertschätzung trotz wissenschaftlich verschiedener Ansichten. Um die Bedeutung des Augenblicks zu unterstreichen, wechselten sie vielleicht in die damalige offizielle Wissenschafts- und Diplomatensprache (Suess war nicht nur Geologe, sondern auch Politiker) zur Beschriftung des Suess-Hammers. Wäre dann aber, falls die Beschriftung als Widmung an den Empfänger zu verstehen ist, nicht auch der jetzt in Wien liegende Heim-Hammer bis auf den unterschiedlichen Namen gleichlautend beschriftet oder mit einer sonstigen Widmung versehen worden?

 

Hans Schardt, ohne Jahr (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_00252) 

Statt eines Tauschs mit Heim wäre jedoch auch möglich, dass Suess am Geologenkongress 1894 oder zu einem späteren Zeitpunkt seinen Hammer Hans Schardt (1858-1931) als Anerkennung für dessen Forschungsergebnisse anbot. Schardt, ein Schüler Heims, Dozent in Lausanne, danach Professor in Neuchâtel und zuletzt Heims Nachfolger in Zürich, untermauerte mit seinen Erkenntnissen, veröffentlicht 1893 und 1898, die Wahrscheinlichkeit von Bertrands These. Er erarbeitete die Grundlagen der Deckentheorie.

 

Maurice Lugeon, um 1905 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr 9852) 

Schliesslich gelang es Maurice Lugeon (1870-1953) , Professor an der Universität Lausanne, auf der Basis der bisherigen eigenen und fremden Untersuchungen eine allgemeine Deckentheorie für die Alpen zu entwerfen. Vor der Publikation vermochte Lugeon 1901 während eines Besuches in Zürich, den immer noch widerspenstigen Heim für seine Argumentation einzunehmen und ihn gar zu einem wohlwollenden offenen Brief im Anhang an die Veröffentlichung der eigenen Überlegungen 1902 zu bewegen. Ein geschicktes Vorgehen. Denn als Lugeon am Internationalen Geologenkongress in Wien 1903 seine Synthese präsentierte, nicht ohne gleichzeitig dem bekehrten Heim grösste Ehrerbietung zu erweisen, erhielt er vom Altmeister Unterstützung gegen die scharfen Reaktionen von empörten Kollegen.

 

Albert Heim, Die Glarner Falten. Obere Hälfte Doppelfalte nach Escher und Heim 1870-1903, untere Hälfte Deckfalte nach Bertrand 1883, Suess 1892, Heim 1903 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Nachlass Albert Heim, Hs 401:1243. Abbildung: ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs_0401-1243)

Suess hätte nun durchaus erst 1903 seinen Hammer Heim übergeben können zum Zeichen, dass der Zürcher Freund nach der öffentlichen Abkehr von seiner bisherigen Überzeugung künftig mit dem geeigneten Werkzeug, nämlich mit den neuen theoretischen Annahmen, weiterforschen möge. Im Falle eines Hammertauschs hätte Suess dann den Heim-Hammer als Trophäe einer endlich erledigten Irrlehre seiner Sammlung einverleiben können. 

Wegen der französischen Beschriftung scheint es allerdings unmittelbar einleuchtender, wenn Suess 1903 seinen Hammer Lugeon überreicht hätte für dessen brillanten Entwurf, der zahlreiche geologische Rätsel löste. Diese Möglichkeit könnte interpretiert werden als symbolische Übergabe der Alpenforschung vom damaligen Doyen der Disziplin an einen der vielversprechendsten Vertreter der jungen Geologengeneration, als Beginn einer neuen Aera.  

Vielleicht war der Hergang der Geschichte jedoch ganz anders:

Ein Tausch der persönlichen Instrumente zwischen Heim und Suess ist zur Erklärung der heutigen Standorte beider Hämmer nicht notwendig. Heim hätte zum Beispiel, wie manch anderer Geologe auch, dem geschätzten älteren Kollegen zu dessen 60. Geburtstag seinen Hammer geschenkt haben können ohne zeitgleiche Gegengabe des Jubilars. 

Ein Geschenk des Werkzeugs von Suess sowohl an Heim wie an Schardt oder an Lugeon ist möglich. Wegen der französischen Beschriftung scheint die Gabe an Schardt oder Lugeon plausibler als an Heim.

Heim mit Hammer, aber nicht dem von Suess, 1908  (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs_0494b-0115-054-AL)   

Da die Beschriftung des in Zürich liegenden Suess-Hammers nicht mit Sicherheit der Handschrift eines der genannten Geologen zugeordnet werden kann, ist überdies nicht auszuschliessen, dass erst jemand aus der Nachkommenschaft oder aus dem Geologischen Institut der ETH Zürich das Objekt beschriftete. 

Übrigens weist der Suess-Hammer am stumpfen Ende des Hammerkopfes bei der stielseitigen Kante einen rundumlaufenden feinen Riss auf. Hätte Suess somit sein lädiertes Instrument bei einem seiner Besuche in der Schweiz zurückgelassen oder es an einem der Kongresse in anderen Ländern leichthin dem erstbesten Interessenten überlassen und es damit entsorgt? War zu einer Trennung vom persönlichen Werkzeug also gar kein besonderer Anlass notwendig, da Suess ohnehin ein neues benötigte? Oder war erst dem nachfolgenden Besitzer beim Gebrauch des ungewohnten fremden Geräts ein Missgeschick passiert? 

Anmerkungen

Alexander Tollmann (1928-2007), späterer Betreuer der Suess Hammersammlung, erzählte vom Hammertausch zwischen Heim und Suess. Hinweis von Prof. Daniel Bernoulli, Basel per e-mail an die Autorin, 1. April 2013.

Literatur

- Brockmann-Jerosch, Marie/Arnold Heim: Albert Heim. Leben und Forschung, Basel 1952

- Congrès Géologique International, Compte Rendu, IX. Session, Vienne 1903, Vienne 1904

- Franks, Sibylle/Rudolf Trümpy: The Sixth International Geological Congress Zurich 1894. In: Episodes, Vol.28, no.3, pp. 187-192

- Heim, Albert: Lettre ouverte à M. le Professeur M. Lugeon [concernant la théorie des nappes de recouvrement], Zurich, 31 Mai 1902. In:  Bull. de la Soc. Géol. de France, 4e série, t. 1, pp. 823-825

- Heim, Albert: Geologische Nachlese Nr. 17, Über die nordöstlichen Lappen des Tessinermassives. In: V. Natf. G. Z., 51. Jg. 1906, pp. 397-402

- Heim, Albert: Geologische Nachlese Nr. 18, Die vermeintliche ‚Gewölbeumlegung des Nordflügels der Glarner Doppelfalte‘, südl. vom Klausenpass, eine Selbstkorrektur. In: V. Natf. G. Z. 51. Jg., 1906, pp. 403-431

- Klemun, Marianne: The Geologist’s Hammer – ‚Fossil‘ Tool, Equipment, Instrument and/or Badge? In: Centaurus, volume 53, issue 2, May 2011, pages 86-101

- Lein, Richard: Die Hammersammlung des Eduard Suess: Fakten und offene Fragen. In: Berichte der Geologischen Bundesanstalt, Band 89, Wien 2011, pp. 37-38

- Suess, Eduard: Erinnerungen, Leipzig 1916

- Trümpy, Rudolf: The Glarus Nappes: A Controversy of a Century Ago. In: Controversies in Modern Geology, ed. D.W. Müller/J.A. Mc Kenzie/H. Weissert, London et al. 1991, pp. 385-404

Bilderrätsel

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„ETH Zürich, Physikgebäude, Div. Innenaufnahmen. s/w Diapositiv 8,5×10 cm” (Dia_221-015)

Es gibt Bilder im Bestand, die dem Laien Rätsel aufgeben und ihn trotz aller Faszination ratlos zurücklassen. Vermutlich stammt die Aufnahme aus den 1950er Jahren. Beim Objekt auf den Boden scheint es sich laut unserem Fachreferenten für Physik um eine physikalische Versuchsanordnung für Ausbildungszwecke zu handeln (ein mechanisches Experiment zu Schwingungen?). Wozu dann aber die Teppiche an den Wänden? Dienen sie als Schallschutz? Was wird hier experimentiert oder demonstriert?

Vielleicht lässt sich hier im Blog etwas Crowdsourcing betreiben? Physikkundige LeserInnen dürfen also gerne die Kommentarfunktion nutzen.

 

Auflösung des Bilderrätsels vom 24.05.2013

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Hallraumlaboratorium (Dia_221-015)

Knapp eine Woche nach Erscheinen des Beitrags über ein enigmatisches physikalisches Experiment hat Sabine von Fischer vom Institut gta das fragliche Bild zufällig auf dem Bildschirm im Lesesaal Sammlungen und Archive entdeckt. Sie konnte uns sehr genau über die Hintergründe Auskunft geben und hat noch am selben Abend einen Kommentar verfasst:

Es handelt sich hier um das 1929 eingerichtete Hallraumlaboratorium von Franz Max Osswald im Raum 35a im Untergeschoss des Hauptgebäudes der E.T.H. 1932-1933 für die Doktorarbeit von Hans Frei (“Elektroakustische Untersuchungen in Hallräumen”, 1935), aber wohl auch für andere Experimente wurden Teppiche aufgehängt, um die Resonanzen des Raums zu dämpfen. Gemäss den Angaben von Dieter Weidmann (Institut gta) befindet sich der Raum in der Südwestecke des südlichen Innenhofs in Gulls Untergeschossgrundriss.

Direkt neben dem Hallraumlaboratorium befand sich ein Messraum, in welchem die Resultate aufgezeichnet wurden:

Messraum (Dia_221-013)

Die Dissertation von Hans Frei, für welche die Fotos gemacht wurden, ist digital einsehbar: http://e-collection.library.ethz.ch/view/eth:20638. Darin werden neben anderen Sponsoren auch die „Teppichfirma Forster & Co. in Zürich für die kostenlose Lieferung hochfloriger Orientteppiche für die Dämpfungsversuche im Hallraum“ verdankt.

Wir haben die Bilder mittlerweile korrekt beschlagwortet und bedanken uns bei Sabine von Fischer ganz herzlich für die Lösung des Rätsels.

Link:

Forschungsprojekt von Sabine von Fischer: http://www.stalder.arch.ethz.ch/dissertationen/hellhoerige-haeuser-br-raum-klang-architektur-19201970

 

„Prima di essere ingegneri voi siete uomini“ –„Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen“

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Dieses Zitat steht auf einer steinernen Tafel im Andenken an Francesco de Sanctis (1817-1883), welche sich im Hauptgebäude der ETH Zürich in der Nähe des Auditorium Maximum befindet. Der italienische Geistes- und Literaturwissenschaftler hatte von 1856-1860 die erste Professur für Italienische Literatur an der ETH inne. Die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft trägt noch heute seinen Namen (Cattedra de Sanctis).

„in questo politecnico rivelo … enthüllte er in glanzvoller Weise den jungen Leuten die Schönheit der grossen poetischen Werke und der sich in ihr spiegelnden reinen und würdevollen Gedankenwelten …“

Fotografie der Gedenktafel von Franceso de Sanctis, ETH-Bibliothek, Bildarchiv, doi: 10.3932/ethz-a-000045371

Die Gedenktafel enthüllt indes auch folgendes: De Sanctis ist als Flüchtling nach Zürich gekommen („esule in libera terra“). 1848 in Italien zum Minister des öffentlichen Unterrichts berufen, musste der liberal gesinnte de Sanctis 1850 zur Zeit der Reaktion für drei Jahre in Neapel ins Gefängnis. Diese Jahre nutzte er, um sich profunde Kenntnisse der deutschen Sprache anzueignen. Er übersetzte Gedichte von Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe und Hegels Wissenschaft der Logik (dt. 1812/1816) ins Italienische. Nach seiner Entlassung ging er trotz behördlicher Weisung nicht in die USA, sondern tauchte unter und verblieb schliesslich in Turin.

Mit Hilfe des italienischen Kunsthistorikers und Politikers Gianlorenzo Morelli (1816-1891) versuchte nun der Schweizer Geologe Arnold Escher von der Linth (1807-1872) – seinerseits ab 1856 ebenfalls Professor am Polytechnikum – den berühmten italienischen Literaturkritiker ins liberale Zürich an die neu gegründete Ingenieurschule zu holen. Dies nicht ohne Schwierigkeiten, wie untenstehender Brief Morellis, der fliessend Deutsch sprach, an Arnold Escher von der Linth aufzeigt:

„[..] Seit Empfang Ihres Briefes, (d. 11ten Novb.) schrieb ich bereits zum viertenmal nach Turin. Da ich auf meine drei ersten an De Sanctis gerichteten Briefe keine Antwort erhielt, obwohl ich darin natürliche[r]weise auf eine solche drang, so mußte ich auf den Verdacht gerathen, daß entweder De Sanctis meine oder ich seine Briefe nicht empfangen habe. An mich gerichtete Schreiben haben sehr oft die Ehre gehabt erbrochen zu werden, u. da De Sanctis als polit. Flüchtling u. freisinniger Schriftsteller nicht eben bey allen Regirungen des civilsierten Europa wohl angeschrieben seyn müs[s]te, so dürfte meine Vermuthung, daß meine Briefe an ihn an irgend einem Ha(c)ken unterwegs stecken geblieben seyen, nicht als zu kühn betrachtet werden. […]“

Seite 1 aus dem Brief von Gianlorenzo Morelli an Arnold Escher von der Linth, 30. Nov. 1855, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:1262, doi: 10.7891/e-manuscripta-10242

„Wie ich de Sanctis kenne, so wird ihn – falls nicht gewichtigere Gründe u. Hindernisse da sind – das geringe Honorar von 2,000 frcs. nicht abhalten, einem so ehrenvollen Rufe zu folgen. Vorderhand aber muß ich Sie, verehrter Herr, angelegentlichst bitten diese Angelegenheit unter Ihre Protection nehmen zu wollen u. Ihre verehrl. Collegen in Bern um geduldige Nachsicht anzugehen. Ein paar Wochen Zeit ist kein Verlust, wenn es sich um die Acquisition eines Mannes, wie de Sanctis ist, handelt. Binnen acht Tagen hoffe ich Ihnen eine bestim[m]te Antwort geben zu können, u. sollte ich mich des Telegraphen bedienen, um mit Turin zu correspondiren. Ich werde unseren Feinden nicht so leicht gewon[n]enes Spiel geben.“

Ausschnitt aus Seite 2 des Briefs von Gianlorenzo Morelli an Arnold Escher von der Linth, 30. Nov. 1855, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:1262, doi:10.7891/e-manuscripta-10242

Arnold Escher von der Linths erfolgreiches Bemühen um De Sanctis‘ Berufung ans Eidgenössische Polytechnikum, das damals bei seiner Gründung 1854/55 noch keine Hochschule war, ist ein gutes Beispiel für gelungenes Networking. Es galt, bedeutende Gelehrte und Professoren an der neuen Ingenieurschule zu verpflichten. Man liess Beziehungen und Kontakte im In- und Ausland spielen, um an geeignete Kandidaten heranzutreten. Das berühmteste Beispiel ist wohl der Brief des in Zürich weilenden Richard Wagner an Gottfried Semper vom August 1854, den Wagner auf Bitten von Regierungsrat Sulzer schrieb. Gottfried Semper, der im Februar 1855 zum Professor in Zürich berufen wurde, bot man übrigens das doppelte Gehalt von de Sanctis an, nämlich 4000 fr, dazu „nicht unbedeutende Collegien-Gelder“.

De Sanctis lehrte vier Jahre am Polytechnikum. Interdisziplinarität war ihm ein grosses Anliegen. Er wollte mit seinen Gedanken die Studenten zu ganzheitlichen Menschen heranbilden. Es gäbe noch etwas anderes neben dem Ingenieur, nämlich den „Bürger“, den „Gelehrten“, den „Künstler“. Bildung war für ihn ein allumfassendes Allgemeingut und grundlegendes Menschenrecht.

1860 kehrte de Sanctis nach Italien zurück und wurde 1861 erster Bildungsminister im neu ausgerufenen Königreich Italien unter Vittorio Emanuele II. (1861-1878) und Ministerpräsident Camillo Graf Benso di Cavour (1810-1861). Das Amt des Ministers des öffentlichen Unterrichts sollte de Sanctis unter den Nachfolgern von Cavour 1878 und 1879-1880 noch zweimal innehaben. Als Politiker und Literaturwissenschaftler wirkte er aktiv im jungen Italien mit, er führte unter anderem eine Grundschulbildung für alle ein und war prägend für die Entwicklung einer italienischen Nationalliteratur.

Quellen und Verweise:

Die ETH – eine sozialrevolutionäre Brutstätte? Die russischen Anfänge des Frauenstudiums

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Brief von Moisej Rosenstein, Getreidehändler jüdischer Herkunft in Simpheropol (Krim), an die Direktion des Polytechnikums,
13. September 1872  (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK 1/1/2809 Matrikel Anna Rosenstein)

 

Als Anna Rosenstein im Alter von 18 Jahren mit väterlicher Erlaubnis ans Eidgenössische Polytechnikum kam, war sie erst die zweite Frau, die die anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestanden hatte und zum Diplomstudium zugelassen wurde. Ein Jahr zuvor, 1871, hatte Nadina Smetzky aus Moskau ihr Maschinenbaustudium begonnen. Die erste Welle weiblicher Studierender an der ETH wurde klar von Frauen aus dem Zarenreich dominiert.

Das Milieu, in dem die russischen Pionierinnen des Frauenstudiums an der Universität Zürich lebten, ist inzwischen gut erforscht. Doch wie verhielt es sich mit den sogenannten „Kosackenpferdchen“ an der Schwester-Hochschule?

Auch am Polytechnikum stammten die ersten Frauen vornehmlich aus dem russischen Kleinadel oder vermögenden Kaufmannsfamilien. Einige von ihnen beteiligten sich in Zürich aktiv an den politischen Diskussionen im radikalen Milieu der russischen Emigranten und pflegten persönlichen Kontakt zum international bekannten Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876), der wiederholt nach Zürich kam. Am Polytechnikum studierten die ersten Frauen ganz unterschiedliche Fächer wie Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Landwirtschaft, Naturwissenschaften, Chemie und Pharmazie – Studienrichtungen, die für russische Studentinnen in der Schweiz eher untypisch waren, da Frauen in Russland nur gerade im medizinischen oder schulischen Bereich überhaupt beruflich tätig sein durften.

Die Freifächer-Abteilung der ETH bot den Studierenden die Gelegenheit, ihr Wissen über europäische Geschichte und wirtschaftliche Zusammenhänge zu erweitern. Besonders die Vorlesung „Die sociale Frage“ des sozialliberalen Nationalökonomen Prof. Karl Viktor Böhmert (1829-1918), der sich auch in der Öffentlichkeit für das Frauenstudium einsetzte, scheint die Studentinnen interessiert zu haben.

 

Nadežda Nikolaevna Smezkaja (1849-1905),
die erste Diplomstudentin der ETH Zürich,
Porträt aus dem Jahr 1877  (Quelle: bibliophilka.shpl.ru)

 

Leider wissen wir wenig über den weiteren Lebensweg der Pionierinnen des Frauenstudiums an der ETH. Lebensspuren von Marija Rozenstejn (Schwägerin von Anna), Dr. Marie Stamo, Sofija Čaijkovskaja-Lavrova, Concordia Istomine sind bisher nicht aufzufinden. Über Rosalie Feldmann aus Odessa wissen wir, dass sie ihr Chemiestudium 1876 abgebrochen und sich kurz darauf in Zürich vergiftet hat.

Allerdings ist über drei Studentinnen etwas mehr zu erfahren, da sie in der Geschichte der Russischen Revolution oder der europäischen Arbeiterbewegung eine gewisse Rolle gespielt haben, wenn sie auch nicht so berühmt-berüchtigt geworden sind wie die Attentäterin Wera Figner, ihre Kollegin von der Universität Zürich. Die Lebensläufe der drei Studentinnen Nadežda Smezkaja, Anna Rozenstejn und Maria Filippovna Kovalik waren geprägt von politischem Kampf, Gefangenschaft und Flucht. Die hartnäckige Verfolgung ihrer sozialrevolutionären Ziele verlangte ihnen grosse persönliche Opfer ab, manchmal griffen sie dabei auch zu ethisch fragwürdigen Mitteln.

Nadežda Smezkaja stammte aus Moskau und war die Tochter eines adeligen Offiziers. Nach kurzem Medizinstudium an der Universität Zürich wechselte sie ans Polytechnikum, um Maschinenbau zu studieren. Im Alter von 24 Jahren kehrte sie 1873 nach Russland zurück, wo sie unter der bäuerlichen Bevölkerung im Nordwesten sozialrevolutionäre Propaganda betrieb, bis sie verhaftet wurde. 1876 gelang ihr die Flucht nach Italien, doch kehrte sie kurz darauf nach Petersburg zurück, wo sie untertauchte. Später reiste in den Ural, um dort einen Volksaufstand zu unterstützten, wurde wieder verhaftet und nach Sibirien verbannt. Zwar gelang ihr auch hier nochmals die Flucht, doch nur für kurze Zeit. In der Verbannung in Sibirien heiratete sie ihren Mit-Häftling, den polnischen Schriftsteller Adam Szymanski (1852-1916). Da sich ihr Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte, wurde sie aus der Verbannung entlassen, doch nur zwei Jahre später in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, wo sie 1905 im Alter von 46 Jahren verstarb.

 

Anna Rozenstejn/Kuliscioff (1854-1925), die zweite Studentin an der ETH Zürich,
Porträt aus dem Jahr 1886 (Quelle: Scienzaa2voci.it)

 

Anna Rozenstejn/Kuliscioff studierte an der Bauschule der ETH und kehrte wie ihre Studienkollegin Smezkaja 1873 (als Reaktion auf einen Erlass des Zaren) nach Russland zurück, wo sie sich in der sozialrevolutionären Bewegung engagierte. Mit ihrem Ehemann, den sie in Zürich kennengelernt hatte, war sie in die Ermordung eines Polizisten verwickelt. Während es ihr jedoch gelang unterzutauchen, wurde ihr Mann verhaftet und starb im Gefängnis. 1878 flüchtete sie nach Frankreich, wo sie den Namen Kuliscioff annahm. Kurze Zeit studierte sie an der Universität Bern, wechselte dann nach Neapel, wo sie 1886 als erste Frau mit einer Dissertation ihr Medizinstudium abschloss. In Mailand praktizierte sie als Frauenärztin, später gab sie eine sozialistische Zeitschrift heraus und war massgeblich an der Gründung der Sozialistischen Partei Italiens beteiligt. Als militante Feministin setzte sie sich insbesondere für das Frauenwahlrecht ein und verbüsste wegen ihrer Teilnahme an Streiks und Demonstrationen mehrere Haftstrafen. Sie starb 1925 in Mailand an Tuberkulose.

 

Titelblatt der ersten von einer Frau an der ETH verfassten Diplomarbeit, 1877,
Maria Kovalik: „Über den Einfluss der Verkehrszustände auf die Art der Einrichtung & des Betriebes
der Viehhaltung in der Landwirthschaft“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Dipl-L 1)

Maria Filippovna Kovalik war in der heutigen Ukraine als Tochter eines Offiziers und Gutsbesitzers zur Welt gekommen. Sie kam erst im Alter von 30 Jahren ans Polytechnikum, war also um einiges älter als ihre Studienkolleginnen. Nach sieben Semestern schloss sie ihr Landwirtschaftsstudium erfolgreich ab, womit sie die erste Frau war, die am Polytechnikum ein Diplom erlangte. Gleich nach Studienabschluss reiste sie 1877 nach Russland, wo sie zwei Jahre lang unter Polizeibeobachtung stand, da sie verdächtigt wurde, terroristische Aktionen vorzubereiten. 1878 wurde sie verhaftet und nach Sibirien verbannt, doch gelang ihr 1887 die Flucht. Bis 1906 lebte sie in der Schweiz und in Frankreich, kehrte dann jedoch nach einer Amnestie ins Zarenreich zurück. Sie starb in den 1920er Jahren in Minsk.

 

Weiterführende Informationen

Matrikelsammlung der Studierenden im Hochschularchiv der ETH Zürich

Ljašenko, L. M. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v Rossii. Vtoraja polovina 1850-ch – konec 1890-ch gg. Moskau 2009

Fondazione Anna Kuliscioff

Franziska Rogger, Monika Bankowski: „Ganz Europa blickt auf uns!“ Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden 2010

Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hg.): „Ebenso neu als kühn“: 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, Zürich 1988


Fussbad im Trinkwasser – Kampf um den Katzensee: schützen, nutzen, trockenlegen?

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Die Heimatschutz-Kommission des Kantons Zürich beim Augenschein im Katzensee Juli/August 1915. Foto: Rudolf Zinggeler (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs_0494b-0115-084-AL)

Sieben Gestalten, fünf Männer, zwei Knaben, knie- bis hüfttief im Wasser, bekleidet mit sechs Badehosen, davon vier unterschiedlich quergestreift, zwei einfarbig, je eine hell, eine dunkel, vier Hüten, drei dunkel, einer hell, drei Botanisierbüchsen, einer grossen Ledertasche, einem hellen Lendentuch, einem Hemdkragen und einer Zigarette oder zwei Zigaretten. Das arithmetisch wie optisch sorgfältig arrangierte Bild ist kein Erinnerungsfoto einer gewöhnlichen „Exkursion mit Prof. Schröter an den Katzensee“ wie die Bildunterschrift im Familienalbum des Geologen Albert Heim lautet. Der Anlass des Fussbads in idyllischer Sommerfrische ist weit dramatischer.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchte die Obrigkeit Zürichs nach Wasserreserven für ihre Stadt. Albert Heim, Professor für Geologie an der Universität und am Polytechnikum, wurde mit Gutachten über das Grundwasser der näheren Umgebung betraut, darunter das des Katzenseegebiets. Heim kam in seinem Bericht 1885 zu einem trüben Befund:

Die Thatsache steht jedenfalls fest, dass beständig und auf vielen Stellen zerstreut im ganzen Gebiete und ganz besonders in der Nähe der Dörfer die Verunreinigungen aus der oberen nassen Schicht oder direkt von der Oberfläche in das tiefere Grundwasser hinab gelangen können. Wir könnten es unter solchen Umständen niemals verantworten, solches Grundwasser zur Benützung zu empfehlen.

Mit der Katzenseegegend als Trinkwasserbecken war es somit nichts. Dreissig Jahre später drohte ihr jedoch erneute Veränderung. Die Gemeinde Watt-Regensdorf, die nach und nach den Baumbestand zwischen beiden Seen zur Herstellung von Entwässerungsleitungen abgeholzt hatte, wollte das Gebiet 1915 einem privaten Grundbesitzer verkaufen. Der zuständige Kreisforstmeister legte seiner Oberbehörde nahe, anlässlich der Handänderung rechtliche Schutzmassnahmen für die Seeufer zu treffen, und alarmierte zudem die kantonale Heimatschutz-Kommission. In dieser sass des Kreisforstmeisters früherer Lehrer Carl Schröter, Professor für Botanik an der ETH Zürich.

Die Landschaft der Katzenseen war eines von Schröters bevorzugten Forschungsterrains. Er hatte sich nicht nur gründlich mit der örtlichen Flora befasst, sondern auch einen Doktoranden die mikroskopische Fauna der Gewässer untersuchen lassen. Ausserdem war die Gegend ein nahegelegenes Exkursionsziel, wo er seine Studierenden in die praktische botanische Feldforschung einführte und „wo stets ein frisches Bad eingefügt wurde“.

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Protokoll der Heimatschutz-Kommission, 11. Sitzung vom 21. Juli 1913, nachmittags, verbunden mit einem Augenschein am Katzensee (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 398:261)

Die Heimatschutz-Kommission gelangte sofort an die Volkswirtschaftsdirektion, man möge ihr vor Erledigung des Landverkaufs Gelegenheit zur Aussprache mit dem Käufer geben. Am Nachmittag des 21. Juli 1915 trafen sich Schröter und zwei weitere Vertreter der Kommission mit dem Forstmeister und dem künftigen Eigentümer zu einem ersten Augenschein vor Ort. Der Käufer erwies sich als Naturfreund, der mit seinem Ankauf das Torfstechen an den Seeufern verhindern wollte. Er war bereit, seine Wiederaufforstungspläne zugunsten zweier Hochmoorflächen einzuschränken, und erklärte sich auch mit einem Schutzvermerk für das Gelände im Grundbuch einverstanden.

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Heimatschutz-Kommission des Kanton Zürichs, Einladung an die Mitglieder zu einem Augenschein am Katzensee auf Donnerstag, 5. August 1915 (ETH-Bibliothek, Hochschularchive, Hs 398:259)

Am 5. August 1915 fand ein weiterer Augenschein statt. Schröter wurde um Notizen zur botanischen Bedeutung der Seen gebeten. Darauf gestützt verfasste die Heimatschutz-Kommission zuhanden der Behörden am 13. Juli 1915 ein Gutachten, das erst ausführlich die landschaftlichen Reize der Gegend preist, bevor deren Reichtum an besonderen Sumpfpflanzen wissenschaftlich ausgebreitet und eine Reihe von Schutzmassnahmen empfohlen werden. Es schliesst mit den Worten: „Zur Illustrierung unserer Ausführungen verweisen wir zum Schluss auf die beiliegende Serie stimmungsvoller Photographien.“

Vermutlich kamen sie aus der Kamera von Rudolf Zinggeler wie die Aufnahme der sieben Badenden. Der Zürcher Seidenindustrielle, in dessen gastfreundlicher Villa Carl Schröter und Albert Heim verkehrten, war begeisterter Freizeitfotograf. Er setzte Landschaft und Heimatschützer nach Vorbildern aus der Malerei in Szene:

Die Botanisierbüchsen deuten auf Pflanzensammler hin. Professor Schröter, dritter von links, zeigt auf die Blüte in seiner Hand, zieht die Aufmerksamkeit der Personen rechts im Bild auf sich und ist damit als Experte ausgewiesen. Die lange Gestalt mit Federnhut ist möglicherweise der Forstmeister. Bei den Kindern, welche die Erwachsenen flankieren, handelt es sich vielleicht um die Söhne des Grundbesitzers. Die anderen drei Herren lassen sich nicht näher bestimmen.

Auffallend bei genauerem Hinsehen ist der mittlere der Gruppe. Ihm war offenbar unbekannt, dass man bei einer Gewässerinspektion mit Schröter tunlichst die Badehose einzupacken hatte. War er für die Bildwirkung vom Fotografen Hals über Kopf ins Wasser gescheucht worden? Hatte er dabei verwirrt vergessen, sich auch des Hemdkragens zu entledigen und sich stattdessen in der Verlegenheit eine Zigarette angezündet? War ihm der Glimmstengel zur Beruhigung vom Mitleidgenossen ganz rechts spendiert worden, der mit leicht abgewandtem Gesicht ebenfalls zu rauchen scheint? Oder war der Bildkünstler selber kurzerhand ins Nass gestiegen, malerisch umschlungen von einem Badetuch der anderen, behängt mit der schweren Werkzeugtasche als Pendant zu den übrigen Botanisierbüchsen und vorsichtig mit den Händen ein fotografisches Utensil umfassend?

Wie auch immer: Der Verkauf des Moorgeländes zwischen den Seen hatte sich zum Guten gewendet. Doch noch war eine andere Gefahr, die vom Entwässerungsprojekt für eine Bachkorrektur der angrenzenden Gemeinde Seebach ausging, nicht gebannt. Die geplante Absenkung des Seespiegels war für die Sumpfflora nicht unbedenklich. Offenbar erwog die Heimatschutz-Kommission in den folgenden Jahren einen vorbeugenden Ankauf der gefährdeten Zonen durch den Kanton, während der Verschönerungsverein Oerlikons, der Nachbargemeinde von Seebach, der sich an den Baumfällaktionen entlang der Abflusskanäle aus dem Katzensee störte, zuständigenorts genauere Informationen zum ganzen Projekt verlangte.

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Heimatschutz-Kommission des Kantons Zürich/Dr. Hans Peter an Prof.Dr. Carl Schröter, 26. Januar 1917 mit handschriftlichem Kommentar Schröters (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 398:265)

Am 26. Januar 1917 schrieb der Sekretär der Heimatschutz-Kommission an Schröter, dass die Rohrleitung zur Entnahme von Wasser aus dem Katzensee vorläufig nicht ausgeführt werde. Der erleichterte Schröter schickte den Brief an einen unbekannten Adressaten weiter mit dem Kommentar:

L.[ieber] Fr.[eund]

Gute Nachrichten über unser Bijoux!

Bitte um gefällige Rücksendung.

Beste Grüsse!

Dein getreuer

C Schröter

 

Hin- und Nachweise

Eine Version der Fussbad-Fotografie mit höherer Auflösung ist zu finden in der ETH-Bibliothek unter Bildarchiv-Online: Im Suchfeld Hs_0494b-0115-084-AL eingeben, suchen und das grosse Bild wählen.

Die zitierten Dokumente befinden sich im Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek im Nachlass Carl Schröter unter den Archivsignaturen Hs 398: 254-265.

Das Zitat „wo stets ein frisches Bad eingefügt wurde“ ist aus: Eduard Rübel: Carl Schröter 1855-1939, 103. Neujahrsblatt auf das Jahr 1940 herausgegeben von der Gelehrten Gesellschaft, Zürich 1940, S.31.

Hugo Lötscher: Rudolf Zinggeler – der Industrielle als Photograph, in: NZZ, Nr. 33, Samstag/Sonntag, 9./10. Februar 1991, S. 73-75.

Rudolf Zinggeler – Fotografien von 1890-1936: ein Zürcher Industrieller erwandert die Schweiz, Einleitung und Auswahl der Fotos von Nikolaus Wyss, Basel 1991.  Darin S. 50 der Hinweis auf die Bekanntschaft mit Albert Heim und Carl Schröter.

„Forschung im Fokus“ – Bilderwelten No. 3 zeigt die Praxis wissenschaftlicher Fotografie an der ETH Zürich

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Cover Forschung im Fokus

Fotografie und Wissenschaft beeinflussen sich gegenseitig. Die wissenschaftliche Erforschung und Optimierung fotochemischer Prozesse verhalf der frühen Fotografie zum bahnbrechenden Erfolg als massentaugliches Bildmedium. Umgekehrt eröffnete die Fotografie der Wissenschaft neue Möglichkeiten, Beobachtungen zu dokumentieren, Ergebnisse zu illustrieren und sich im Bild zu präsentieren.

Ausgehend von den Bildbeständen der ETH-Bibliothek skizziert die Historikerin und Publizistin Monika Burri im einleitenden Essay des neu erschienenen Bildbandes „Forschung im Fokus“ unterschiedliche thematische Zugänge zu dieser vielschichtigen Wechselwirkung zwischen Fotografie und Wissenschaft. Gefragt wird nach der Rolle der Fotografie als Medium des Wissens oder nach dem Beitrag der Fotografie zur Repräsentationskultur der ETH Zürich. Ein Schwerpunkt bildet die Entwicklung des Photographischen Instituts der ETH Zürich. 1886 gegründet, existierte es als eigenes Institut bis in die 1970er-Jahre, als es in der neu geschaffenen Einheit für digitale Bildwissenschaften aufging. Im erhaltenen Bildmaterial des Photographischen Instituts spiegeln sich dessen fotografische Praxis und Aufgabenvielfalt. Die Herstellung aufwendiger Mikrofotografien von Zellen und anderen Kleinstobjekten gehörten ebenso zum Repertoire wie Aufnahmen von Versuchsanordnungen oder Experimenten. Nicht nur Professorenschaft und bauliche Entwicklung der ETH Zürich wurden dokumentiert, sondern auch die eigenen fototechnischen Versuche des Instituts.

Im seinem umfangreichen Bildessay vereinigt „Forschung im Fokus“ rund 200 wissenschaftliche Fotografien aus mehreren Beständen des Bildarchivs der ETH-Bibliothek. Darunter sind auch viele Aufnahmen, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Umso mehr wird dadurch deutlich, wie multifunktional Fotografie in der wissenschaftlichen Praxis von Forschung und Lehre an der ETH Zürich verwendet wurde. Wissenschaftliche Gebrauchsfotografien stehen neben bewusst komponierten und ästhetisch gestalteten Aufnahmen.

ETH Zürich, Institut für Aerodynamik, Messraum

Messraum im ETH-Institut für Aerodynamik. Photographisches Institut, 1955 (Bildarchiv, PI_55-RH-02129-B)

Einfüllen von flüssigem Stickstoff in eine Kühlfalle

Einfüllen von flüssigem Stickstoff in eine Kühlfalle. Zyklotron-Gebäude am Physikalischen Institut der ETH Zürich, 1967 (Bildarchiv, Dia_299-122)

Für die ganze Reihe „Bilderwelten. Fotografien aus dem Bildarchiv“ gilt, dass die in Buchform vorgestellten Aufnahmen stets nur eine kleine Auswahl aus den in grossem Umfang digitalisierten Bildquellen des Archivs darstellen. Für weitere Entdeckungseisen durch die Bestände steht die Plattform BildarchivOnline zur Verfügung.

Links:

Die Publikation „Forschung im Fokus“ ist im Buchhandel erhältlich oder kann direkt beim Verlag Scheidegger & Spiess bestellt werden.

Die weiteren Titel in der Reihe “Bilderwelten. Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek”:

No. 1: Burri, Monika, Die Welt im Taschenformat. Die Postkartensammlung Adolf Feller, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2011.
No. 2: Weidmann, Ruedi, Swissair Souvenirs. Das Fotorachiv der Swissair, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2012.

Ermordung eines Privatdozenten – Zum 25. Todestag von Hermann Burger (1942-1989)

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Während Hermann Burgers Studienzeit: Lesesaal der ETH-Bibliothek, 1965 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Com_L14-0442-0225)

Wolfram Schöllkopf, Privatdozent für Glaziologie und deutsche Literatur an der Eidgenössischen Technischen Universität, flieht aus der Sitzung der Freifächerfakultät, der Abteilung 13 für Geistes- und Militärwissenschaften. Soeben ist mit einer Intrige sein Lehrauftrag aus dem Unterrichtsprogramm gestrichen worden. Als er an der Brüstung zum Gebäudeinnenhof kurz überlegt, ob er sich hinunterstürzen soll, erleidet er einen Herzanfall. Er quält sich die Treppen hinab, aus dem Haus, über die Strasse ins benachbarte Universitätsspital und bricht in der Notaufnahme zusammen.

Unauffällig kleingedruckt steht auf der Titelblattrückseite von Hermann Burgers Roman „Die künstliche Mutter“ aus dem Jahr 1982:

„Alle Personen und Örtlichkeiten dieses Romans sind frei erfunden, selbst dort, wo Namen aus der realen Topographie übernommen wurden.“

Auf den Tatort des Eingangskapitels „Ermordung eines Privatdozenten“ trifft dies kaum zu. Abgesehen von der nur leicht verfremdeten Organisation des akademischen Betriebs handelt es sich um die wirkliche ETH Zürich. Deren Hauptgebäude ist erkennbar in zahllosen vom gepeinigten Schöllkopf exakt beschriebenen und kommentierten Architektur- und Ausstattungseigenheiten, darunter auch ein Bruchstück der ETH-Bibliothek:

„[…] oben im glarigen Licht die braunrote Kuppel über dem Lesesaal mit den giftgrünen Tischlämpchen […]“

Das Braunrot der gleichzeitigen Aussen- und Innensicht der Kuppel zielt auf die Ziegelbedeckung der Eisenbetonkonstruktion, die Schöllkopf als monumentale Brust einer hartherzigen Mutter empfindet. Kein Wunder birgt dieses Gebilde entgegen der lateinischen Bezeichnung für Hochschulen „Alma Mater“, nährende Mutter, im Innern die zum Aussenpanzer komplementärfarbenen Giftdrüsen.

ETHBIB.Bildarchiv_PI_55-SCH-0028_38073

Lesesaal der ETH-Bibliothek, Versuchsaufnahme mit zu prüfender Panorama-Kamera aus Japan, 1955 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, PL_55-SCH-0028)

Dank Burgers Roman ist ein schriftliches Zeugnis für die Farbe der historischen Leseleuchten vorhanden, denn es hat sich weder ein Exemplar der Tischlichter erhalten, noch existiert eine Farbfotografie aus der Zeit ihrer Verwendung vor der Lesesaalrenovation in den 1970er Jahren. Immerhin können Schwarzweissaufnahmen aus der entsprechenden Perspektive einen zum Romangeschehen passenden Eindruck vermitteln, wie etwa die japanische Panoramasicht von 1955: Das „glarige Licht“, die blendende Helle, bricht durch die hohen Fenster. Darunter laufen lange Reihen stramm gerade ausgerichteter Halbkugeln in die Bildmitte, die Lampenschirme oder Stahlhelme von Marschkolonnen einer Truppenparade, so genau ist das im Streulicht nicht auszumachen. Unter den Halbkugeln fehlen bei näherer Betrachtung die Köpfe, sie – die Lampenhelme – sind aufgepflanzt auf fusslosen Ständern, ein Soldatenfriedhof. Sollte es sich bei diesem Lesesaal um eine militärische Weihestätte handeln?

Burger/Schöllkopf jedenfalls zieht Parallelen von der ETH zur Gotthardfestung der Schweizer Armee, in die der weitere Romanverlauf verlegt wird:

„Es gab ja in der Tat hochinteressante Parallelen zwischen dem Fort Réduit im Gotthard und dem über und über rustizierten Semper-Gullschen Hochschulsackbahnhof, der auf einer Schanze des ehemaligen Festungsareals der Stadt Zürich thronte; hier biss man auf Granit, dort würde man auf Granit beissen; hienieden ein undurchschaubares Labyrinth von Auditorien, Sammlungen, Zeichensälen, Stichtonnengewölben, Materialkatakomben, Lieferanteneingängen, Senatszimmern, Lichthofkanzeln, Blendarkaden, Säulen-Balustraden – dort, wenn man dem Gerücht über die Existenz einer Heilstollenklinik Glauben schenken durfte, ein nicht minder verwirrendes Carceri-System; der heilige Godehard war sozusagen die Natur gewordene ETU unter besonderer Berücksichtigung der Abteilung für Geologie, Hydrologie und Glaziologie, umgekehrt die Landeslehrstätte ein zum Polytechnikum aufgefächertes Gebirgsmassiv; in Göschenen wie hier herrschte permanente Geistesdämmerung, betrat man an einem gleissenden Frühsommertag die Apsis des Vestibüls, verfinsterte sich der Junimorgen zu einem Dezembernachmittag, und man hielt unwillkürlich Ausschau nach einer heissen Schockolade, wie sie im Bahnhofbuffet Göschenen, so die kulinarische Legende, verabreicht wurde, aus Crémant-Riegeln gestossen.“

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Hermann Burger als angehender ETH-Student 1962 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK1/1/39775)

Der Schriftsteller Hermann Burger war ab Winter 1975 bis zu seinem Freitod am 28. Februar 1989 Privatdozent für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Hier studierte er auch von 1962 bis 1965 Architektur, danach Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich.

Hinweise:

Hermann Burger, Die Künstliche Mutter, 1982. Daraus die Zitate auf Seite 16 und Seiten 14/15.

Im Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek wird das Dossier zu Hermann Burgers Architekturstudium aufbewahrt.

Das Max-Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek verfügt über eine Kopie von Burgers dreitägiger Hausarbeit im Rahmen seiner Lizentiatsprüfung an der Universität Zürich: Architekturschilderung in der modernen deutschen Literatur am Beispiel von Max Frisch, Typoskript, Aarau 1972.

Bei der ETH-Bibliothek ausleihbar ist eine Kopie des ersten Teils von Burgers ETH Habilitationsschrift: Studien zur zeitgenössischen Schweizer Literatur, Typoskript, Zürich 1974.

Hermann Burgers Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.

Von der ETH zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Die Zürcher Studienjahre des späteren serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašić

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Als der 23-jährige Nikola Pašić im Jahr 1868 aus Belgrad in Zürich eintraf, wäre er am liebsten gleich wieder abgereist. Mit einem Stipendium der serbischen Regierung sollte er sich am Polytechnikum zum Bauingenieur ausbilden lassen, doch Pašić hatte Mühe mit dem Schweizerdeutschen und hätte seine rudimentären Deutschkenntnisse lieber im benachbarten Süddeutschland aufgebessert, was das zuständige Ministerium jedoch ablehnte. So blieb er in Zürich und begann sein Studium an der späteren ETH.

In Zürich gab es damals bereits eine grosse Kolonie russischer Studierender (Männer und Frauen), zu der sich nun auch serbische Studierende gesellten. Pašić war ein aktiver Teil dieses radikalen, revolutionären, im weitesten Sinn sozialistischen Milieus. Eine besonders enge Freundschaft verband ihn mit Svetozar Marković (1846-1875), der ebenfalls an der ETH studierte (wenn auch nur als Fachhörer) und sich als erster Serbe publizistisch mit dem Thema Sozialismus auseinandersetze. Pašić organisierte in Zürich regelmässige Treffen der serbischen Studierenden und hielt in dieser Runde selbst Referate zu so verschiedenartigen Themen wie Bewusstsein, Ehrlichkeit oder die Schädlichkeit des Fluchens. Zudem arbeitete Pašić  in einer Druckerei, die sozialistische Propaganda-Broschüren herstellte, die dann nach Serbien geschmuggelt wurden.

Nikola Pasic ca. 1914

Der langjährige serbische Ministerpräsident Nikola Pašić
(Wikicommons, Petrović: Serbia, Her People, History, and Aspirations, London 1915)

Nach sechs Semestern Bauingenieur-Studium verliess Pašić die ETH ohne einen regulären Studienabschluss. Nach einem kurzen Praktikum beim Bau der Eisenbahnlinie Wien-Budapest, wandte er sich endgültig der Politik zu. Nach 30 turbulenten Jahren gelang es ihm 1903, nach dem Putsch im Zusammenhang mit dem Mord am serbischen König, sich permanent an der Spitze des serbischen Staates zu etablieren. Er war Parteipräsident der Radikalen Volkspartei (Bauernpartei) und amtierte bis zu seinem Tod 1926 immer wieder als Ministerpräsident oder Aussenminister (oder gleich beides).

Mit Beginn der Ära Pašić verschlechterten sich die Beziehungen zum Nachbarn Österreich-Ungarn zusehends, während sich die Kontakte zu Russland verfestigten. Innenpolitisch wurde Pašić immer stärker in einen Machtkampf gegen eine Gruppe von Offizieren verwickelt, die mit terroristischen Mitteln die Schaffung eines  „Großserbien“ zu beschleunigen versuchten. Im Frühjahr 1914 verdichteten sich die Pläne dieser (mehr oder weniger geheimen) Organisationen, einen Mordanschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand zu verüben. Pašić selbst wusste wohl mehr über diese Attentatspläne, als ihm lieb war.

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Die „Princip-Brücke“ in Sarajevo in einer Aufnahme von 1936, heute wieder „Lateiner-Brücke“.
In der Nähe der Brücke gab Gavrilo Princip die tödlichen Pistolenschüsse auf Thronfolger Franz Ferdinand ab.
(ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia 247-09656, Fotograf: Leo Wehrli)

Nach der Ermordung des Thronfolger-Ehepaares in Sarajevo am 28. Juni 1914 unterliess Pašić eine Untersuchung der Verbindungen der Attentäter zur serbischen Staats- und Militärführung. Seine ablehnende Antwort auf das österreichisch-ungarische Ultimatum war zwar diplomatisch formuliert, bedeutete jedoch einen weiteren Schritt in Richtung Krieg. Wie für viele andere serbische Nationalisten stand auch für Pašić fest, dass letztendlich nur ein Krieg die Träume von „Großserbien“ verwirklichen konnte.

Pašić gehört somit zu den Hauptakteuren der europäischen Krise im Sommer 1914 und damit auch zu den „Schlafwandlern“, die „wachsam, aber blind“ (Christopher Clark) den Ersten Weltkrieg auslösten.

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Gedenktafel am Seilergraben Nr. 9 in Zürich,
wo Pašić während seiner Studienzeit am Polytechnikum gewohnt hatte.
(Hochschularchiv der ETH Zürich, 2014, Lisa Oberli)

In Zürich erinnert noch heute eine Gedenktafel an Nikola Pašić und seine Studienzeit in Zürich. Gestiftet hatte die Tafel 1939 der schweizerisch-jugoslawische Verein, unterstützt von ETH-Professoren, allen voran Leopold Ružička (1887-1976), der noch im selben Jahr den Nobelpreis für Chemie entgegennehmen konnte.

 

 

Im Hochschularchiv der ETH Zürich findet sich die Matrikel von Nikola Pašić.

Im Stadtarchiv Zürich finden sich Informationen zur Gedenktafel am Seilergraben.

Sofija Skorić: „The Populism of Nikola Pašić: The Zürich Period.” East European Quarterly, 14, 4, 1980, S. 469-485.

Žarko Milošević: Mladi Pašić. Beograd 1994

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013

 

 

Ein Schuss, ein Schrei – Stud. Ing. Karl May

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Karl May am Eidgenössischen Polytechnikum 1860/61 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK/1/1/0)

Vor zwei Jahren wurde der 100. Todestag des Abenteuerromanautors Karl May (1842-1912) in den Medien ausgiebig begangen. Ein deutscher Finanzpolitiker, begeisterter Leser von Mays Wildwestgeschichten, wollte gar die Kavallerie ins Nachbarland der Alpenindianer reiten lassen, um dort frei nach der Erzählung „Der Schatz im Silbersee“ vor dem Fiskus versteckte Vermögen germanischer Bleichgesichter auszuheben.

„Der Schatz im Silbersee“, als Buch erstmals 1894 vor 110 Jahren erschienen, spielt wie weitere Wildwestwerke vor dem Hintergrund der verkehrstechnischen Erschliessung des nordamerikanischen Kontinents mit Bahnlinien. Schienenbau und Überfälle von Eingeborenen auf das „Feuerross“ oder von weissen Banditen auf Dampfeisenbahnzüge sind wiederkehrende Handlungsmotive. Im ersten Band der „Winnetou“ Trilogie wird ein aus Deutschland eingewanderter Hauslehrer, der spätere Old Shatterhand, aufgrund seiner Vorkenntnisse nach gründlicher Prüfung von der Atlantic and Pacific Railroad Company als Vermessungsingenieur angestellt.

Woher hatte Karl May sein technisches Wissen? Ein Hinweis findet sich in den Akten der Studierenden der ETH Zürich. Ein Einschreibebogen belegt, dass Karl May im Wintersemester 1860/61 am Eidgenössischen Polytechnikum den mathematischen Vorkurs besuchte. Einige Semester später ist er abgelichtet auf der Erinnerungsfotografie des 3. Kurses der Ingenieurschule von 1862 im Kreise seiner Kommilitonen und Professoren, vor der Kulisse des kurz zuvor erbauten Wipkinger Eisenbahnviadukts und der dahinter liegenden Stadt Zürich mit dem See und den Voralpen in der Ferne.

Zürich, ETH Zürich, Ingenieurschule, 3. Kurs

Ausschnitt aus: Eidgenössisches Polytechnikum Zürich, Ingenieurschule 3. Kurs 1862

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Eidgenössisches Polytechnikum Zürich, Ingenieurschule 3. Kurs, 1862 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv,  Portr_10676-FL)

Ein Schuss, ein Schrei – April statt May

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Nein, der Schriftsteller Karl May studierte nicht am Eidgenössischen Polytechnikum, der heutigen ETH Zürich, jedenfalls nicht nachweislich. Der Blog-Eintrag „Ein Schuss ein Schrei – Stud. Ing. Karl May“ war ein Scherz zum 1. April.

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Studentendossier von August Aeppli, Seite 2 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK1/1/1)

Das angebliche Aktenstück ist eine Bildmontage unter Verwendung des Studentendossiers von August Aeppli (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK1/1/1) und der Unterschrift aus einer Kopie aus dem Jahr 1965 des Briefes aus Zürich vom 20. März 1876 von Charles/Karl Mayer-Eymar (1826-1907), Professor für Paläontologie an der Universität Zürich und Privatdozent am Eidgenössischen Polytechnikum, an Bernhard Studer (1794-1887), Mineralogieproifessor an der Universität Bern (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 277: 1075). Das Original des Briefes liegt übrigens in der Burgerbibliothek Bern.

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Charles/Karl Mayer-Eymar an Bernhard Studer, Zürich, 20. März 1876, letzte Seite (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 277:1075).

Das Erinnerungsbild des 3. Kurses der Ingenieurschule am Eidgenössischen Polytechnikum aus dem Jahr 1862 ist dagegen echt. Allerdings zeigt der Ausschnitt nicht Karl May, sondern eine nicht identifizierte Person.

Zürich, ETH Zürich, Ingenieurschule, 3. Kurs

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Eidgenössisches Polytechnikum Zürich, Ingenieurschule 3. Kurs, 1862 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv,  Portr_10676-FL)

Wilder Westgeologe – Zum 190. Geburtstag von Jules Marcou (1824 – 1898)

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Wann immer die Anfänge der heutigen ETH erzählt werden, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf ein paar ausländische politische Flüchtlinge sowie wenige einheimische Staatsmänner und Forscher. Einer fehlt regelmässig im Erinnerungsreigen der mehr oder minder Berühmten, keineswegs ein unscheinbares Mauerblümchen, im Gegenteil: Jules Marcou, Pionier der nordamerikanischen Geologie.

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Jules Marcou, Foto : Pach Bro’s, New York USA, 1883 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_09635)

Marcou wurde am 20. April 1824 als jüngstes von drei Kindern eines öffentlichen Angestellten und dessen Frau in Salins im französischen Jura geboren. Er besuchte 1842-1843 höhere Schulen in Besançon und Paris, scheiterte bei der Abschlussprüfung und verzichtete krankheitshalber auf einen weiteren Versuch, publizierte aber eine Arbeit über ein mathematisches Thema. Zurück in Salins lernte er 1844 den Arzt Claude-Marie Germain kennen, Amateurgeologe und Fossiliensammler, der ihn auf seine Exkursionen im Jura mitnahm und in die Grundlagen der Geologie einführte. Nach umfassender Lektüre von Fachliteratur entwickelte Marcou ein eigenes System der zeitlichen Abfolge von Gesteinsschichten, mit dem er die Sammlung seines Mentors ordnete. Dieser machte ihn mit dem aus Porrentruy im Schweizer Jura stammenden Naturforscher Jules Thurmann bekannt, der seinerseits Marcou dem renommierten Paläontologen und Glaziologen Louis Agassiz in Neuchâtel vorstellte. In dessen neugegründetem Fachorgan konnte Marcou 1845 seine erste geologische Arbeit publizieren. 1846 referierte Marcou in Paris vor der Société Géologique de France über seine „Recherches géologiques sur le Jura salinois“. Er erhielt eine Assistenzstelle für Naturgeschichte an der Sorbonne, wechselte in den „Jardin des Plantes“ und wurde hier im Januar 1848 auf Empfehlung von Agassiz zum Forschungsreisenden für eine dreijährige Expedition in Nordamerika ernannt.

Nach einmonatiger Schiffsreise anfangs Mai in New York gelandet, zog Marcou weiter nach Boston und Cambridge zu Agassiz, der da seit 1846 als Professor für Zoologie und Geologie wirkte. Er schloss sich einer Exkursion seines Förderers und dessen Studenten zu den grossen Seen an, erkundete danach allein den Nordosten der USA, die Niagarafälle und den Osten Kanadas. 1850 heiratete er Jane Belknap. eine reiche Erbin, mit der er im Laufe der Jahre drei Kinder hatte. Durch die Heirat materiell abgesichert kündigte er die Stelle beim „Jardin des Plantes“, konnte künftig unabhängig von offiziellen Institutionen forschen und seine Ergebnisse bei Bedarf auch ohne das Entgegenkommen wissenschaftlicher Organe publizieren. Auf der Basis seiner Exkursionen und vorhandener Publikationen anderer Geologen veröffentlichte er 1853 in Boston die erste geologische Übersichtskarte über die Vereinigten Staaten.

Im selben Jahr nahm Marcou das Angebot an, als Geologe an der staatlichen Expedition nach Westen entlang dem 35. nördlichen Breitengrad zur Planung einer künftigen transkontinentalen Eisenbahnlinie teilzunehmen. Nach 4000 Kilometern in 10 Monaten erreichte der Tross Ende März 1854 die Pazifikküste bei Los Angeles. Damit war Marcou der erste Geologe, der den ganzen Kontinent von Osten nach Westen durchquert hatte. Er reiste weiter in den Norden, besuchte dort – in der Ära des Goldrauschs – die Goldminen, schiffte sich ein nach Süden, überquerte mit Maultier und Bahn die Landenge von Panama und gelangte per Schiff zurück nach Boston im Mai 1854. Da er sich in den Tropen Panamas eine hartnäckige Krankheit zugezogen hatte,  reiste er mit der Familie zur Erholung nach Europa ins heimatliche Salins.

Im Bulletin der Société Géologique de France veröffentlichte er 1855 eine neue geologische Karte zusammen mit einem Geländeprofil vom Tal des Mississippi bis zum Pazifik, mit Begleittext und Zeichnungen von Fossilienfunden. Weiter skizzierte er in den Annales des Mines eine Klassifikation der Bergketten, die er bereist hatte. Während bisher angenommen worden war, die westlichen Gebiete Nordamerikas bestünden aus erdgeschichtlich jungen Gesteinsformationen, hatte Marcou Formationen aus verschiedenen, auch älteren Erdzeitaltern vorgefunden und zudem jurassische Ablagerungen, die ihn an diejenigen seiner Heimat erinnerten. Die geologische Vergleichbarkeit der „neuen“ Welt mit der „alten“ war eine Sensation, die den Nationalstolz mancher amerikanischer Geologen irritierte. In den USA erschien erst 1856 eine von Marcou nicht autorisierte Edition der Rohfassung seines Expeditionsberichts an die staatlichen Stellen mit Eingriffen von fremder Hand.

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Aus: Jules Marcou, Résumé explicatif d’une carte géologiques des Etats-Unis et des provinces anglaises de l’Amérique du Nord, avec un profil géologique allant de la vallée du Mississippi aux côtes du Pacifique, et une planche de fossiles, Bull. Soc. Géol. France, 1855 (2), XII, pp. 813-936, 1 carte. (ETH-Bibliothek, Signatur: P 81457 SER.2: 12 (1854/1855) )

Inzwischen war in der Schweiz 1854 das Eidgenössische Polytechnikum gegründet worden. Dessen Leitung hatte grösste Mühe, mit knappem Budget die vorgesehenen Professuren für Geologie, Paläontologie und Mineralogie adäquat zu besetzen und dabei gleichzeitig die innenpolitisch gebotene Vertretung der zweiten Landessprache Französisch zu berücksichtigen. Da erhielt Bernhard Studer, Schulratsmitglied und Mineralogieprofessor in Bern, von seinem Kollegen Elie de Beaumont, Geologe und ständiger Sekretär der Académie des Sciences, aus Paris im November 1855 den Hinweis auf Marcou. Studer nahm sofort mit diesem Kontakt auf und schrieb am 3. Dezember an seinen Zürcher Freund Arnold Escher, der ebenfalls für eine der zu besetzenden Professuren vorgesehen war:

„Das Ding scheint sich mir am Ende noch gut genug zu gestalten. Marcou von Elie de B. empfohlen, erbietet sich für Fr. 2000 J. Paläontologie zu übernehmen und allenfalls auch einen französischen Cours über Geologie zu lesen, so dass noch Fr. 2 bis 3000 für einen deutschen Mineralogen bleiben, […] sei so gut einstweilen deinen Mund zu halten, sonst könnte die Sache wieder ins Wasser fallen […].“

Offiziell wurde Studer vom Schulratspräsidenten erst am 10. Dezember 1855 beordert, „sich zu vergewissern, ob Herr Marcou in Salins die Lehrstelle für Paläontologie provisorisch zu übernehmen geneigt wäre“. (SR2, Präsidialverfügungen 1855, Nr. 390, 10. Dezember 1855).

Der Umworbene war trotz angeschlagener Gesundheit geneigt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er als weitgehend autodidaktischer Privatgelehrter ohne jegliche Studienabschlüsse endlich eine akademisch anerkannte Position in der Wissenschaftswelt erhielt. Im März 1856 wurde er zum Professor für Paläontologie und Geländegeologie gewählt. Am 30. April hielt er die Eröffnungslektion seines Kurses über Paläontologie, die er drucken liess. Darin erklärt er die Geologie zur Grundlage des technischen und kulturellen Fortschritts, zählt zahlreiche Namen schweizerischer Naturforscher mit ihren Verdiensten von den Anfängen bis in die damals jüngste Gegenwart auf, macht auf die notwendige Aufteilung des Forschungsgebietes in Spezialdisziplinen aufmerksam, kommt schliesslich auf die Paläontologie und deren Spezialisten zu sprechen mit detaillierten Literaturangaben.

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Jules Marcou, Ecole Polytechnique Fédérale, Cours de Géologie paléontologique, Leçon d’ouverture, Zurich 1856. Widmungsexemplar für Oswald Heer, Professor an der ETH und Universität Zürich. (Sammelband ETH-Bibliothek, Signatur: 81797).

Damit hatte er sich offenbar zu viel zugemutet, denn schon eine Woche später wurden ihm 14 Tage Krankheitsurlaub gewährt. Im folgenden Wintersemester 1856/57 behandelte er Geschichte, Konstruktion und Kolorieren geologischer Karten und Schnitte. Doch am 22. Januar 1857 ersuchte er wieder um Urlaub auf unbestimmte Zeit wegen seines schlechten Gesundheitszustands infolge der Strapazen seiner vielen Reisen. Als seinen Stellvertreter schlug er den frisch habilitierten, zweisprachigen Charles Mayer vor, der auch französische Vorlesungen halten könne. Obwohl reglementarisch eine Stellvertretung zu Lasten des Polytechnikums gegangen wäre, bot Marcou an, ¾ seines Gehaltes an Mayer abzutreten. Das für die Lehranstalt vorteilhafte Arrangement, ersparte es ihr doch die Mühe der kurzfristigen Suche einer geeigneten Ersatzkraft und die zusätzlichen Kosten, wurde am 5. Februar bewilligt. Die finanzielle Umsetzung klappte allerdings nicht. Wie aus dem Brief Marcous an Mayer vom 22. September 1857 hervorgeht, hatten weder er noch Mayer bis dahin Geld vom Polytechnikum erhalten, so dass Marcou nach Reklamation beim Schulrat kurzerhand seinen Bankier in Paris anwies, Mayer den ihm zustehenden Betrag zukommen zu lassen.

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Jules Marcou an Charles Mayer, Zürich 22. September 1857  über die bis dahin vom Polytechnikum noch nicht bezahlte Entschädigung an Mayer für die Stellvertretung des erkrankten Marcou

Marcou hatte im Sommer 1857 seine Lehrtätigkeit vermutlich wieder aufgenommen. Wohl gestützt auf die Bewilligung für unbefristeten Urlaub Anfang Jahr oder in der Annahme, wenn er denn seinen Stellvertreter aus eigener Tasche bezahlen müsse, sei eine Information der Obrigkeit nicht dringlich, hatte Marcou im Wintersemester 1857/58 seine Veranstaltungen zunächst stillschweigend wiederum an Mayer abgetreten. Nach Ansicht des für Unterrichtsbelange zuständigen Direktors Joseph Wolfgang von Deschwanden war aber dazu eine neue offizielle Bewilligung nötig. Daher erneuerte Marcou „auf Einladung des Schulrates“ am 11. November 1857 sein Gesuch um unbefristeten Urlaub, der ihm wieder unter denselben Bedingungen wie beim letzten Mal gewährt wurde.

Im Sommer 1858 las Marcou über die Paläontologie der Juragebirge, wofür sich bei Semesterbeginn nur gerade ein Student interessierte. Marcou schrieb deshalb an Direktor von Deschwanden, dieser möge weiteren Interessenten die genauen Unterrichtszeiten und Lokalitäten anzeigen, denn mangels eines eigenen Gebäudes – Sempers Repräsentationsbau war erst ab 1864 bezugsbereit – fanden die Vorlesungen des Polytechnikums an verschiedenen über die Stadt verstreuten Orten statt. Ob die Resonanz der Veranstaltung sich danach verbesserte oder nicht, ist unbekannt. Marcou reichte jedenfalls am 21. Juni 1858 noch mitten im laufenden Semester sein Entlassungsgesuch ein mit der Begründung, dass eine Kehlkopfentzündung ihm langes Sprechen vor Publikum verunmögliche. Nach Behandlung des Gesuches durch den Schulrat und den Bundesrat im August wurde Marcou auf Ende September verabschiedet.

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Jules Marcou 1972, Foto: A. Sonrel, Boston USA. Herkunft: Bibliothèque National de France BNF. Fundort: http://www.christianboyer.com/philatelie/SocietesArticles.htm, Le Timbrophile, n°7, 15 mai 1865, pages 55 et 56.

Die Polytechnikums-Festschrift von 1905, die erste und letzte, die Marcou nicht nur im Personenregister oder gar nicht erwähnt, verdächtigt ihn, der Lehrtätigkeit überdrüssig gewesen zu sein und die Krankheit nur vorgeschoben zu haben, um sich wieder mehr der Forschung widmen zu können. Marcou bemerkte allerdings 14 Jahre nach seinem Rücktritt in einem Brief vom 2. Mai 1872 an Arnold Escher , er habe lange Zeit an einer Kehlkopfkrankheit gelitten, was der Hauptgrund für seine Demission gewesen sei. Die Krankheit war somit keine Ausrede gewesen, doch konzentrierte Marcou die ihm verbleibende Energie tatsächlich wieder ganz auf die Forschung, insbesondere auch auf die Verteidigung seines wissenschaftlichen Rufs.

Unterdessen hatten sich nämlich einige etablierte amerikanische Geologen gegen ihn formiert. Sie bezweifelten seine Neuentdeckungen, bestritten die Zuschreibungen der von ihm gesammelten Gesteinsproben und erklärten seine Übersichtskarte für unbrauchbar. Marcou konterte scharf. In einem offenen Brief widersprach er seinen Widersachern Punkt für Punkt und meinte unverblümt:

„[…] I profess the doctrine that geologists must see with their own eyes in order to decide the difficult questions of the science […]. Finally, I maintain all the observations contained in my preliminary report […] as exact, notwithstanding all the objections advanced against them. From your experience of the Indian Country, you will probably agree with me, that it is much easier to make objections from a comfortable room in a large town, than to observe in the wilderness of the Rocky Mountains; and you will permit me to suggest, that it would be better for the Science if my adversaries would go themselves on the field and follow my route near the 35th parallel, instead of making a show of their powers of argument in Silliman’s Journal, or at the meetings of scientific associations.”

Der Redaktor des Silliman Journal (American Journal of Science) suggerierte darauf, Marcou schmücke sich mit einem nicht existenten staatlichen Titel (sei also ein Hochstapler), seine Entdeckungen seien entweder nicht neu oder dann komplett falsch, und stellte Marcous wissenschaftliche Kompetenz überhaupt in Frage. Nun sah Marcous einflussreicher und wissenschaftlich hoch angesehener Gönner Agassiz sich genötigt, in die Debatte einzugreifen. Unter Androhung künftig nicht mehr mit dem Journal zusammenzuarbeiten, zwang er den widerspenstigen Redaktor, einen öffentlichen Antwortbrief ohne die redaktionell vorgeschlagenen Abschwächungen zu drucken. Darin wies Agassiz die Kritiker seines Schützlings in die Schranken mit dem Hinweis, dieser sei einer der weltbesten Kenner jurassischer Gebirgsformationen und ihm allein käme die Priorität neuer geologischer Entdeckungen in den westlichen amerikanischen Gebieten zu. Damit war der Streit nicht beigelegt. Marcou und seine Feinde liessen bis an ihr Lebensende keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig aufs heftigste zu attackieren.

1860 kehrte Marcou in die USA zurück, unterstützte Agassiz ehrenamtlich beim Aufbau des neuen Naturhistorischen Museums in Cambridge und verlegte sein Forschungsfeld in die Appalachen. 1861 veröffentlichte er eine geologische Weltkarte, die er 1873 revidierte. 1864-1875 lebte er wieder in Frankreich, erhielt 1871 das Ritterkreuz der Ehrenlegion, kehrte 1875 in die USA zurück und nahm an seiner letzten staatlichen Expedition in den Süden Kaliforniens teil. Retour in Frankreich 1878-1881 kritisierte er als einer der ersten das Panama-Kanalprojekt ohne Schleusen von Ferdinand de Lesseps aus geologischen sowie humanitären Gründen als nicht durchführbar und als Betrug an den Geldgebern. 1889 scheiterte das Projekt tatsächlich. 1881 reiste Marcou endgültig in die USA, schrieb unter anderem in den 1890er Jahren eine zweibändige Biografie über Agassiz und starb am 17. April 1898 an Lungenentzündung in Cambridge. Mit der Schweiz war er zeitlebens weiter verbunden geblieben, wie eine Reihe von Briefen an verschiedene alte Freunde und neue Kollegen belegen. Mit ihrem herzlichen Ton voll warmer Anteilnahme am Alltag der Empfänger und von gemeinsamen Bekannten kontrastieren sie auffallend zu Marcous verletzenden Streitschriften an die Adresse seiner Gegner.

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Vergrösserung des Emblems aus dem Briefkopf  des Schreibens von Jules Marcou an Arnold Escher, Cambridge/Mass. 13.12.1871 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:1050): Zwischen den Initialen J und M Marcous gekreuzte Werkzeuge, der Geologenhammer für die Feldforschung, die gespitzte Schreibfeder zum Notieren der Ergebnisse, auch interpretierbar als Giftpfeil gegen Gegner. Unter den Werkzeugen ein Erdkreis mit Kartennetz, Marcous Forschungsgebiet.

 

Hinweise:

Marcou, Jules: American Geology. Letter on some point of the geology of Texas, New Mexico, Kansas, and Nebraska; adressed to Messrs. F.B. Meek and F.V. Hayden, Zurich 1858 (Sammelband ETH-Bibliothek, Signatur: 81797). Daraus Zitate, pp. 10 und 13f.

Marcou, Jules: Replay to the Criticisms of James D. Dana, including Dana’s two articles with a letter of Louis Agassiz, Zurich 1859 (Sammelband ETH-Bibliothek, Signatur: 81499).

Im Hochschularchiv der ETH an der ETH-Bibliothek wird das historische Schulratsarchiv aufbewahrt mit den Unterlagen zu Marcous Professur. Weiter sind in verschiedenen wissenschaftlichen Nachlässen von Professoren Briefe von Marcou zu finden.

Durand-Delga, Michel/Richard Moreau: Un savant dérangeant: Jules Marcou (1824-1898), géologue français d’amerique. In : Travaux du comité français d’histoire de la géologie (COFRHIGEO), troisième série, t. VIII, 1994, no 6 (séance du 30 novembre 1994), pp. 55-82.

Durand-Delga, Michel/Richard Moreau: Jules Marcou, précurseur français de la géologie nord-américaine. In : La Vie des Sciences, 13 (+), 1996, pp. 59-83.

 

 


Der denkmalpflegerische Blick

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Poschiavo, Stiftskirche San Vittore, neue Kichenmauer. Restaurierung, 1989 (Dia_287-14847)

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Chur, Kathedrale, Hauptportal, Archivolten. Befund, 2004 (Dia_287-05307)

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St. Johannsen, Klostermauer. Fugen, 1982 (Dia_287-16276)

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Zürich, Kindergarten Zentralstrasse 105, Schirm-Ständer. Instandsetzung, 2002 (Dia_287-21459)

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Zürich, Kindergarten Zentralstrasse 105, WC; alte Fliesen (Detail). Instandsetzung, 2002 (Dia_287-21465)

Diese Bilder wurden zu einem ganz bestimmten Zweck aufgenommen. Der Urheber hat seinen denkmalpflegerischen Blick oft in der Bildbeschreibung mitgeliefert. Da finden sich Stichwörter wie Befund, Restaurierung, Instandsetzen, Inventarisation, Baugeschichte, Silhouette, Holzbau oder Denkmalbegriff. Diese fachlichen Zusatzinformationen machen die Sammlung besonders interessant und können auf Bildarchiv Online mit einer einfachen Suche abgerufen werden. Das Spektrum der abgebildeten Objekte ist breitgefächert und über die ganze Schweiz verteilt: Kirchen und Klöster, Nutzbauten, Brücken, Stadthäuser, Schulhäuser, Schlösser, Uferbebauungen, Gasthäuser usw. Es findet sich Kurioses wie Kaffeerahmdeckeli (Cafésahne) zum Denkmalbegriff neben vielen Detailaufnahmen von Gebäudeteilen wie Fassaden oder Fenster.

Bei der kürzlich online gestellten Bildersammlung handelt es sich um rund 5200 Fotos von Gebäuden und Objekten der Denkmalpflege in der Schweiz. Sie stammen von Georg Mörsch, der 1980 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Denkmalpflege an der ETH Zürich berufen wurde und bis 2005 als Institutsleiter tätig war. Der gesamte Fotonachlass umfasst 36‘000 Bilder aus Europa und den USA. Sie werden vom Bildarchiv der ETH-Bibliothek betreut und sind im Lesesaal Sammlungen und Archive einsehbar.

Die digitalisierten Fotos sind auf der Plattform Bildarchiv Online unter dem Bestandesschlagwort “ETH, Institut für Denkmalpflege” oder mit dem Bildcode “Dia_287″ recherchier- und bestellbar. Buch- und Zeitschriftenpublikationen von Georg Mörsch oder von ihm betreute Diplomarbeiten zur Denkmalpflege sind im Wissensportal der ETH-Bibliothek nachgewiesen. Seine Abschiedsvorlesung mit dem Titel „Vom Nutzen der Denkmäler für die Architektur“ ist als Film online verfügbar.

Forschung im Fokus – Eine Ausstellung des Bildarchivs in der Photobastei Zürich

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Das Bildarchiv der ETH-Bibliothek Zürich präsentiert in der Photobastei Zürich 28 historische Fotografien aus dem Forschungsbetrieb an der ETH. Es handelt sich dabei um eine Auswahl aus dem kürzlich in der Reihe Bilderwelten im Verlag Scheidegger & Spiess erschienenen Band Forschung im Fokus; Wissenschaftsfotografie aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek von Monika Burri. Das kürzlich zu einem der schönsten Bücher des Jahres 2013 erkorene Buch zeigt die Wechselbeziehung von Fotografie und Wissenschaft und bietet einen einmaligen Einblick in die Geschichte der Forschungsfotografie.

Nikotinbildung im Tabakkeimling

Nikotinbildung im Tabakkeimling, 1948 (Dia_249-EL-028-C)

Die Bilder der Ausstellung decken einen Zeitraum von ungefähr 1910 bis 1975 ab. Inhaltlich zeigen sie eine breite Palette von Themengebieten und sind direkt mit der ETH Zürich bzw. ihren Fachgebieten in Lehre und Forschung verbunden. Darunter fallen Fotografien aus den Bereichen Astronomie, Botanik, Elektrotechnik, Land- und Forstwirtschaft, Wasserbau oder Geologie. Darüber hinaus finden sich Bilder aus dem Fotonachlass des Photographischen Instituts der ETH Zürich. An dieser hochschulinternen Fachstelle für Film und Fotografie wurde von 1886–1979 einerseits Forschung auf dem Gebiet der Fotografie betrieben und andererseits wurden im Auftrag Fotos und Filme für den Wissenschaftsbetrieb erstellt.

Das Buch Forschung im Fokus; Wissenschaftsfotografie aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek wird anlässlich der Prämierung der schönsten Bücher des Jahres 2013 im Helmhaus Zürich am 26. Juni ab 18 Uhr präsentiert.

Die Ausstellung in der Photobastei dauert vom 4. bis 20. Juli 2014. Ausstellungseröffnung Donnerstag 3. Juli ab 18 Uhr. Das Bildarchiv freut sich auf Ihren Besuch!

Infos und Öffnungszeiten Photobastei Zürich: www.photobastei.ch

Die Freiheit verteidigen? Klar, aber welche? Debatte um den Ausschluss des Kriegsdienstverweigerers Max Kleiber aus der ETH im Jahr 1917

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SR3_1917_985_18

Aufruf zur Teilnahme an einer Versammlung der Studierenden der ETH und der Universität Zürich im Juli 1917 zur Unterzeichnung einer Resolution gegen den Ausschluss Max Kleibers aus der ETH (Hochschularchiv der ETH Zürich, SR3 1917, 985/18).

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für Max Kleiber der Fall klar. Zwar hatte er erst 1913 sein Studium an der Landwirtschaftlichen Schule der ETH abgebrochen und war mit zwei Freunden nach Kanada ausgewandert, um dort eine eigene Farm aufzubauen. Jetzt aber leistete er der Mobilmachung Folge und kehrte wie viele andere Auslandschweizer in die Heimat zurück. Im Aktivdienst wurde er Artillerieleutnant und 1916 nahm er sein Studium an der ETH wieder auf.

Zum Bruch kam es ein Jahr später. 1917 verweigerte Leutnant Kleiber den weiteren Militärdienst. Sein tadelloser Leumund und die überzeugende Darlegung seiner inneren Beweggründe führte dazu, dass das Militärgericht über ihn ein verhältnismässiges mildes Urteil fällte: Kleiber wurde degradiert und zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Zudem wurden ihm für ein Jahr die Aktivbürgerrechte entzogen. Die Milde des Urteils wurde dadurch bekräftigt, dass Kleibers Antrag auf Verschiebung des Strafantritts bis nach dem Abschluss des Studiums statt gegeben wurde.

Dazu kam es aber vorerst nicht. Kleiber hatte seine Diplomarbeit bereits eingereicht, als ihm der Rektor der ETH mit Schreiben vom 25. Juni 1917 mitteilte, er werde „aus der Eidg. Technischen Hochschule ausgeschlossen”. Dieser Beschluss war auf Antrag der Landwirtschaflichen Schule gefällt worden. Aus den Akten und Protokollen des Schweizerischen Schulrats, dem damaligen Leitungsgremium der ETH, geht hervor, wie intensiv um die Behandlung dieses Antrags und die Begründung des Ausschlusses gerungen wurde. Der Schulrat fragte – allerdings vergeblich – sogar beim Departement des Inneren um Entscheidungs- und Argumentationshilfe nach.

Einmal gefällt, wirkte diese Disziplinarverfügung als diskursiver Brandbeschleuniger. Der „Fall Kleiber“ wurde rasch über die ETH hinaus zum Thema. An verschiedenen Schweizer Hochschulen bildeten sich „Kleiber-Komitees“ und die kontroverse Diskussion um den Fall erfasste bald auch die Presse. Im Zentrum der Debatte standen nicht etwa Kleibers Dienstverweigerung oder seine Beweggründe. Vielmehr drehte sich die Diskussion um die Frage, ob der disziplinarische Ausschluss eines verurteilten Dienstverweigerers aus der Hochschule mit der akademischen Freiheit vereinbar war. Als Eidgenössische Technische Hochschule, so die eine Seite, sei die ETH in Kriegszeiten der Schweiz als Nation und der Verteidigung ihrer Freiheit verpflichtet. Sie dürfe keinen Dienstverweigerer in ihren Reihen dulden. Dadurch würde der Antimilitarismus gefördert und die vielen Studenten, die aufgrund des Aktivdienstes ihr Studium um weitere Semester unterbrechen mussten, würden benachteiligt. Auf der anderen Seite wurde geltend gemacht, dass die Hochschule dem Ideal einer supranationalen akademischen Freiheit verpflichtet sei, die sich auch im Krieg nicht von nationalen politischen Interessen einschränken lassen dürfe. Daher sei die Relegation Kleibers nicht gerechtfertigt. Unter dem Eindruck des Krieges machte der Fall Kleiber die fragile Nahtstelle zwischen den beiden Konzepten “Nation” und “akademische Freiheit” deutlich sichtbar.

Innerhalb der Studentenschaft verlief diese Debatte interessanterweise quer zur politischen Couleur. So unterstützten auch konservative Studentenkreise, etwa Mitglieder der „Zofingia“, die Protestbewegung zugunsten Kleibers. Manche Kommentatoren sahen gerade darin, dass der „Fall Kleiber“ klare und über die Generationen hinweg verlässliche politische Positionen ins Wanken brachte, die eigentliche Gefahr. So heisst es etwa im Freisinnigen Zuger Volksblatt vom 21. Juli 1917:

„es ist a u f l ö s e n d e r Geist in der Haltung der Studentenschaft eine Gesinnungsart, die vom chaotischen Vielerlei der Oberfläche genährt ist, in der alle Begriffe nebeneinander wogen und nach Laune und zeitweiligem Interesse gebraucht werden. Es ist aber weniger staatsrevolutionäre Gesinnung als vielmehr allgemeiner Zeitgeist der Zersetzung, der Haltlosigkeit.“

Und der inzwischen prominente Max Kleiber, um den sich die politisch aufgeladene Diskussion in immer weiteren Dimensionen drehte? Weder sein eigenes Wiedererwägungsgesuch noch die zahlreichen Proteste machten den Entscheid des Schweizerischen Schulrats rückgängig. Zumindest nicht bis nach dem Krieg. Im Frühjahr 1920 allerdings kehrte Kleiber für den Studienabschluss wieder an die ETH zurück. Nach seiner Promotion wurde er 1924 Assistent am Institut für Haustierernährung an. Nachdem er sich 1928 habilitiert hatte, erhielt er 1932 einen Ruf an die University of California in Davis. Der Fachwelt bekannt wurde der 1976 verstorbene Biochemiker Max Kleiber nicht als Schweizer Kriegsdienstverweigerer und Auslöser einer Grundsatzdebatte über die akademische Freiheit, sondern aufgrund seiner Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Masse und Stoffwechsel von Tieren, dem so genannten Kleiber Gesetz.

Quellen im Hochschularchiv der ETH Zürich

Online Zugriff auf die Einträge zu Max Kleiber in den Protokollen des Schweizerischen Schulrats
Die ergänzenden Schulratsakten zum „Fall Kleiber“ (SR3 1917, 985/1-41) sind ebenso vorhanden wie Kleibers Matrikel (EZ-REK1/1/15594) und ein biografisches Dossier über ihn.

Literaturhinweis
Zur Rolle des Verbands der Studierenden an der ETH (VSETH) im Fall Kleiber siehe Lengwiler, Urs et al. Was Studenten bewegt – 150 Jahre Verband der Studierenden an der ETH. Baden: hier + jetzt, 2012, S. 61–65.

Urlaubsgesuch am Vorabend der deutschen Kriegserklärung 1914

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Hierdurch erlaube ich mir, um Urlaub für das Wintersemester 1914/15 zu bitten. Ich gedenke auf Aufforderung von Herrn Geheimrat Haber, dem Leiter des Kaiser Wilhelm Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Dahlem b. Berlin, als wissenschaftlicher Gast in seinem Institut zu arbeiten.

Diese Zeilen stammen vom Physikochemiker und späteren Nobelpreisträger Otto Stern. Er richtet sie 1914 an den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats. Stern ist zu diesem Zeitpunkt Privatdozent an der ETH Zürich. An und für sich ist ein Urlaubsgesuch wegen einer Einladung als wissenschaftlicher Gast im akademischen Umfeld nichts Aussergewöhnliches. Einzig die Wortwahl fällt auf. Stern schreibt von einer “Aufforderung” des Leiters, als wissenschaftlicher Gast in seinem Institut zu arbeiten, und nicht wie zu erwarten wäre, von einem Angebot. Die Einbettung des Briefs in den welthistorischen Kontext führt zu weiteren Fragen.

SR3:1914,883

Otto Stern an den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats, 31.7.1914 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1914, 883).

Das Schreiben entsteht am 31. Juli 1914 in Berlin-Charlottenburg. Drei Tage zuvor hat Oesterreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt. Deutschland befindet sich noch nicht im Krieg, ist jedoch vertraglich an Oesterreich-Ungarn gebunden und erklärt am darauf folgenden Tag Russland den Krieg. Die Juli-Krise beginnt sich zu einem ganz Europa umspannenden Krieg auszuweiten. Beim erwähnten Haber handelt es sich um den Chemiker Fritz Haber. Es ist davon auszugehen, dass Haber einen Tag vor dem offiziellen Kriegsbeitritt Deutschlands mit der bevorstehenden Kriegserklärung rechnete. Haber meldet sich sogleich zum Kriegsdienst und wird Leiter der Zentralstelle für Chemie beim preussischen Kriegsministerium. Er entwickelt für Deutschland Gaskampfstoffe, für deren Einsatz er sich entschieden stark macht. Haber gilt deshalb als “Vater des Gaskriegs”.

Hat Stern den Begriff “Aufforderung” im Schreiben an den Schulratspräsidenten mit Bedacht gewählt? Ist er von Haber unter Druck gesetzt worden? Ein Einsatz als wissenschaftlicher Gast in Habers Institut wird in Sterns Biographien nirgends erwähnt. Auch in einem 1961 geführten Interview, das Stern dem Physiker Res Jost an der ETH Zürich gibt, erwähnt er die Episode mit keinem Wort. Es ist trotzdem davon auszugehen, dass der bevorstehende Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg die eigentliche Motivation für Otto Sterns Urlaubsgesuch darstellt. Das nächste Schreiben Sterns, das in den Akten des Schweizerischen Schulrats vermerkt ist, stammt vom 16. November 1915. Es handelt sich um das Rücktrittsschreiben. Diesmal wird der Krieg als Grund angeführt:

Hiermit bitte ich um meine Entlassung aus der Stellung als Privatdozent für physikalische Chemie an der Eidg. techn. Hochschule, da ich mich inzwischen als Privatdozent für theoretische Physik an der Universität Frankfurt a. Main habilitiert habe. Hierbei war für mich hauptsächlich der Wunsch massgebend, besonders bei den augenblicklichen Zeitverhältnissen eine Stellung in meinem Vaterlande zu haben.

 ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1915, 1244. Otto Stern an den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats, 16.11.1914.

Stern befindet sich gerade auf Heimurlaub von der Ostfront und bittet “auch die Verspätung dieser Mitteilung mit durch den Krieg verursachten Umständen gütigst entschuldigen zu wollen”. In oben erwähntem Interview berichtet Otto Stern auch aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Tape D83:1, 8:00-10:00. Otto Stern, Gespräche mit Res Jost, 25.11.1961 und 2.12.1961):

Hinweise

Horst Schmidt-Böcking, Karin Reich. Otto Stern: Physiker, Querdenker, Nobelpreisträger. Frankfurt am Main 2011.

ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1008:8. Otto Stern, Gespräche mit Res Jost über Albert Einstein und den eigenen Werdegang am 25. November und 2. Dezember 1961 in der Pension Tiefenau in Zürich. Abschrift der Tonaufzeichnung.

Von der ETH auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Teil I: Die Studenten

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Die Schweiz ist keine Insel, weder heute noch vor 100 Jahren. Als im Sommer 1914 in Europa der Krieg ausbrach, der als Erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen würde, war davon auch die ETH Zürich betroffen. Über 180 ausländische Studenten unterbrachen ihr Studium, um in den Streitkräften ihrer Heimatländer Kriegsdienst zu leisten. In den folgenden Kriegsjahren erhöhte sich diese Zahl nochmals auf rund 250 ETH-Studenten. Von den Studierenden mit Schweizer Bürgerrecht mussten zwischen 1914 und 1918 fast 600 ihr Studium zurückstellen, um Dienst bei der Grenzbesetzung zu leisten.

Bald waren auch unter den kämpfenden ETH-Studenten Opfer zu beklagen.

Brief_doppelseitig

Brief von Hugo Honda, k.u.k. Konsularsekretär an den Rektor der ETH Zürich, Basel, 14.11.1914.
Honda war ein Onkel des ETH-Doktoranden Herbert von Wayer
(Hochschularchiv der ETH Zürich, Doktorandenmatrikel Nr. 119, Wayer)

Am 1. Oktober 1914 wurde Herbert von Wayer, Offizier in der k.u.k. Armee, im Kampf zwischen Österreich-Ungarn und Serbien schwer verwundet. Er wurde nach Tuzla (Bosnien-Herzegowina) in ein Militärspital gebracht, wo er am 20. Oktober im Alter von 24 Jahren verstarb.

Sein Onkel schrieb an den Rektor der ETH Zürich:

Im Namen meiner Cousine, Frau v. Wayer, sowie im eigenen, danke ich Ihnen hochgeehrter Herr, für die trostreichen Worte, welche Sie aus Anlass des Todes Herberts an uns zu richten die Güte hatten.

Er starb sanft und gottergeben und gedachte in einem Briefe, den er kurz vor seinem Tode an seine Mutter schrieb, auch seiner ehemaligen Lehrer und der Stätte an der er so viel Wissen gesammelt. Auch des Landes, dessen Gastfreundschaft er und wir alle genossen, gedachte er noch. Und vor dem Abmarsch aufs Schlachtfeld rief er seiner Mutter noch zu: ,… und grüsse mir die schöne Schweiz‘!

Der ETH-Doktorand Herbert von Wayer stammte aus Pola (Pula, heute Kroatien) und hatte in Triest (heute Italien) die Matura gemacht. 1908 kam er nach Zürich ans Polytechnikum, wo er im Sommer 1912 sein Diplom als Fachlehrer in mathematisch-physikalischer Richtung erhielt. Sein Studium hatte er mehrmals unterbrochen, um in Österreich-Ungarn seine Militärdienstpflicht zu leisten. Wayer blieb als Doktorand an der ETH und wurde Assistent für Geometrie bei Prof. Marcel Grossmann. Sein Doktorvater war allerdings mit Wayer unzufrieden und verlangte eine Überarbeitung der Dissertation, was Wayer mit seiner Kündigung quittierte. Die Doktorarbeit wurde nie fertig gestellt.

 Todesanzeige

Sammel-Todesanzeige der ETH für gefallene Studenten, Tagblatt der Stadt Zürich und Amtsblatt, 20. Oktober 1915, S. 7

ETH-Studenten kämpften an jeder Front auf dem europäischen Kontinent, in den Reihen der Mittelmächte wie auch der Entente. Sie kämpften also auch gegeneinander. Insgesamt fielen 15 Studenten und Doktoranden der ETH Zürich auf den Schlachtfeldern Europas, darunter auch ein Student aus England und einer aus Australien. Alle diese jungen Männer starben im Alter zwischen 21 und 24 Jahren.

In Zürich merkte man davon nicht viel. Die Namen der gefallenen Studenten wurden zwar am Schwarzen Brett im ETH-Hauptgebäude und in den jährlichen Studentenverzeichnissen veröffentlicht. Eine Todesanzeige schaltete die ETH nur gerade einmal, im Oktober 1915, und noch dazu als Sammel-Todesanzeige im Amtsblatt – wohl einiges billiger als eine Todesanzeige in der NZZ.

Matrikel Kis

Das Rektorat der ETH Zürich kennzeichnete die Matrikel von verstorbenen Studenten jeweils
mit einem handgemalten schwarzen Kreuz.  Ausschnitt aus der Studentenmatrikel von Karl Kis.
(Hochschularchiv der ETH Zürich, Studentenmatrikel, EZ-REK 1/1/14‘161)

 

Die traurige Bilanz der im Ersten Weltkrieg gefallenen ETH-Studenten:

Herbert von Wayer 1890-1914 Mathematik-Physik Österreich-Ungarn, auf dem Balkan gefallen
Jules Exner 1893-1915 Maschineningenieurwissenschaften Frankreich, an der Westfront gefallen
Paul Schlumberger 1892-1915 Chemie Deutschland (Elsass), an der Westfront gefallen
Eugen Lassovszky 1894-1915 Maschineningenieurwissenschaften Österreich-Ungarn, in Galizien gefallen
Gerhard Thalmann 1894-1915 Chemie Österreich-Ungarn
Thomas Dibbs 1892-1915 Maschineningenieurwissenschaften Australien, in Flandern gefallen
Paul Gégauff 1893-1915 Maschineningenieurwissenschaften Deutschland (Elsass), in der Champagne gefallen
Henri Mongin 1891-1915 Maschineningenieurwissenschaften Frankreich, an der Westfront gefallen
Milosch Komadinitisch 1891-1915 Ingenieurwissenschaften Serbien, auf dem Balkan gefallen
Eberto Sarra 1894-1916 Maschineningenieurwissenschaften Italien, am Isonzo gefallen
Karl Kis 1896-1916 Maschineningenieurwissenschaften Österreich-Ungarn
Alexander Jennings 1894-1917 Maschineningenieurwissenschaften England
Hugo Dietsche 1894-1917 Chemie Deutschland
Hans Müller 1894-1918 Architektur Deutschland
Raoul Simonini 1894-1918 Ingenieurwissenschaften Italien

 

Quellen im Hochschularchiv der ETH Zürich

Auf die Einträge zu Herbert von Weyer in den Protokollen des Schweizerischen Schulrats kann online zugegriffen werden. Die Namen der gefallenen Studenten wurden jeweils einmal im Jahr im Vorlesungsverzeichnis abgedruckt. Dieses ist ebenfalls online zugänglich (Suchbegriff „Polyprogramme“). Die Studenten- und Doktorandenmatrikel aus dieser Zeit können im Hochschularchiv der ETH Zürich eingesehen werden.

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