Quantcast
Channel: ETH – ETHeritage
Viewing all 90 articles
Browse latest View live

Von der ETH auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, Teil II: Die Professoren

$
0
0

Eigentlich wollte ETH-Professor Kurt Wiesinger mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern in die wohlverdienten Sommerferien nach Braunwald fahren. Als er aber am 1. August 1914 auf der Zugsfahrt ins Glarnerland an jeder Brücke und jedem Tunneleingang bewaffnete Soldaten bemerkte, kehrte er schnurstracks nach Zürich zurück. Wiesinger war zwei Jahre zuvor aus Deutschland an die ETH berufen worden und rückte nun zum deutschen Heer ein.

Wiesinger_Ross

Wiesinger als Leutnant der Landwehr hoch zu Ross, Kommandant des Divisions-Brücken-Train Nr. 18,
aufgenommen in Hamburg 1914 (Hochschularchiv der ETH Zürich, Hs 326:1, S. 41 verso)

Schon am 13. August 1914 erlebte Wiesinger seine Feuertaufe an der Westfront. Zwei Tage später wurde er bei der Belagerung der Festung Lüttich in Belgien verletzt und ins Hinterland versetzt. Im Januar 1915 kam er wieder an die Front, dieses Mal in Ostpreussen. Von diesem Kampfeinsatz trug Wiesinger psychische Schäden davon. Er berichtete selbst von Nervenschwäche, Appetitlosigkeit und Gedächtnislücken, die wiederholte Klinikaufenthalte nötig machten. Einigermassen wiederhergestellt, wurde er nach Berlin in die Daimler-Werke versetzt, wo er sein Fachwissen als Maschineningenieur beim Bau von Armeelastwagen einbringen konnte. Wiesinger sehnte sich jedoch auf seinen Lehrstuhl in der Schweiz zurück. Die Befreiung vom deutschen Militärdienst gelang ihm schliesslich 1916, so dass er an die ETH zurückkehren konnte.

Wiesinger war nicht der Einzige unter den 26 ETH-Professoren mit ausländischer Staatsbürgerschaft, der im Ersten Weltkrieg kämpfte. So setzte der Physiker Pierre Weiss (1865-1940) seine Fachkenntnisse im französischen Heer ein, indem er Schallmessgeräte zur Aufklärung von Artilleriestellungen baute. Der Mathematiker Hermann Weyl (1885-1955) kämpfte auf deutscher Seite als Infanterist an der Westfront, bis er 1916 dank Unterstützung der Hochschulleitung wieder auf seinen Posten an der ETH zurückkehren konnte. Auch der Agrikulturchemiker Georg Wiegner (1883-1936) kehrte 1916 nach Zürich zurück, nachdem er als deutscher Infanterieleutnant bei einem Sturmangriff auf englische Stellungen schwer verletzt worden war. Wenig später gelang auch Karl Kuhlmann, der 1915 nur ungern die ETH verlassen hatte, die Rückkehr auf seinen Lehrstuhl für Elektrotechnik.

Wiesinger_Kinder

Wiesinger als Oberleutnant der Landwehr mit seinen Kindern Senta (geb. 1911) und Klaus (geb. 1913),
aufgenommen in Berlin 1915 oder 1916 (Hochschularchiv der ETH Zürich, Hs 326:1, S. 45 verso)

Nach seiner Rückkehr nach Zürich engagierte sich Wiesinger in einer ganzen Reihe von Hilfsvereinen für deutsche Staatsangehörige, darunter der „Hilfsbund für deutsche Kriegerfürsorge“ oder auch der „Deutsche Kriegerbund Germania“. Seine betont deutschnationale (später auch antisemitische) Haltung war in Zürich nicht überall gern gesehen. Wiesinger erhielt anonyme Briefe, die ihn als unerwünschten Ausländer verunglimpften.

 

Wiesinger_Memoiren_S_56

 Ausschnitt aus Wiesingers Memoiren (Hochschularchiv der ETH Zürich, Hs 326:1, S. 56)

Auch an der ETH wurde Wiesinger zur Zielscheibe antideutscher Ressentiments. Er berichtet dazu in seinen Memoiren:

„Erwähnen möchte ich nur, dass kurz vor dem deutschen Zusammenbruch in meiner Hauptvorlesung auf der einen Schiebewandtafel, die zunächst durch die andere verdeckt war, beim Wechseln der Tafeln sich in grosser, etwa vier Meter langer Kreideschrift die Bemerkung ‚Espion allemand‘, zeigt. Als ich dies las, wischte ich es nicht fort, sondern tat so, als ob die Tafel sauber wäre und machte meine weiteren Angaben über diese Herausforderung hinweg. Sehr erstaunt hatte es mich immerhin, dass von den anwesenden über 50 Studierenden niemand daran Anstoss nahm, sondern alle eisig schwiegen.“ (S. 56)

Dass zur selben Zeit an der ETH auch etliche Franzosen studierten, die im Krieg verletzt und danach in der Schweiz interniert worden waren, mag zu dieser Episode beigetragen haben. Aber dazu mehr ein ander Mal.

 

Quellen:

Kurt Wiesinger (1879-1965) verfasste Memoiren unter dem Titel „Aus dem Leben eines Ingenieurs und Erfinders“, die im Hochschularchiv der ETH Zürich einsehbar sind. Zu Wiesingers politischer Haltung in den 1930er Jahren vgl. Peter Kamber: Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, Zürich 1990


Corpus delicti: Rebblatt

$
0
0

Robert Gnehm (1852-1926) war manches in seinem arbeitssamen Leben: Kolorist, Chemiker, CEO, Verwaltungsratspräsident, Parlamentarier, ETH-Professor, Rektor und Präsident des Schweizerischen Schulrats. Und trotzdem fand er daneben Zeit als Berater für chemische Fragen aufzutreten. So auch 1895 im „Prozess Wegenstein contra Aluminiumfabrik Neuhausen“, wie Gnehm am Mittwoch, den 2. Oktober um 9.30 Uhr vormittags in sein Notizbüchlein schrieb. Anlass der Notiz war ein erster Augenschein vor Ort in Neuhausen. Anwesend waren:

  • die Herren Ammann und Tanner vom Bezirksgericht Schaffhausen
  • der Kläger Franz Wegenstein, Hotelier
  • der Beklagte Herr Schindler, Direktor der Aluminiumfabrik
  • die Gutachter Professor Julius Weber aus Winterthur und Robert Gnehm

Als einflussreicher Besitzer mehrerer Hotels rund um den Rheinfall klagte Franz Wegenstein, die Emissionen der Aluminiumhütte und des Anodenwerks schädigten seine Reben. Als Beweisstücke dienten Rebblätter, die im Technisch-chemischen Laboratorium des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich untersucht wurden. Einige dieser Beweisstücke haben die letzten 120 Jahre in Robert Gnehms Nachlass überdauert – allerdings in einem äusserst fragilen Zustand. Es sollte nicht die einzige Begehung bleiben. Der Prozess dauerte bis 1902 an.

Dossier Gutachten Fall Wegenstein

Notizbuch, Korrespondenz und Beweisstücke aus Gnehms Dossier Prozess Wegenstein contra Aluminiumfabrik Neuhausen (Hochschularchiv Hs 633:57)

Das Gutachten vom 9. April 1902 beschreibt ausführlich, welche Massnahmen die Aluminium-Industrie-Aktiengesellschaft in Neuhausen zur Verhinderung von gefährlichen Emissionen unternahm. Das Expertenteam kam zu folgendem Schluss:

„Durch unsere Erhebungen haben wir den allgemeinen Eindruck erhalten, dass mit den Einrichtungen der Aluminiumfabrik in Bezug auf Absorption und Condensation schädlicher Gase das erreicht wird, was bei einem derartigen Betrieb verlangt werden kann. Es schien uns, dass in der Fabrik zur Verhinderung von Rauchschäden – für den gegenwärtigen Betrieb und unter der Voraussetzung, dass die Installation regelmässig und normal funktionirt (sic!) – dasjenige getan wird, was dem heutigen Standpunkte der Technik entspricht.“

Hs633_57_Gutachten_1902

Seiten 2 und 3 des Gutachtens vom 9. April 1902 im Prozess F. Wegenstein gegen die Aluminium-Industrie-Aktiengesellschaft (Hochschularchiv Hs 633:57)

Der Historiker Adrian Knoepfli weist in seiner Gnehm-Biografie auf das pikante Detail hin, dass die Aluminium-Industrie-Aktiengesellschaft (später Alusuisse) Gnehms Dienste auch als Berater in Anspruch nahm.

Adrian Knoepflis Buch Robert Gnehm – Brückenbauer zwischen Hochschule und Industrie ist soeben in der Reihe Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik erschienen. Die Vernissage des Werkes findet heute, 16.1.2015, um 17.00 Uhr an der ETH Zürich (Gebäude LEE, Raum E101) statt.

Die abgebildeten Dokumente stammen aus dem Nachlass Robert Gnehms im Hochschularchiv der ETH Zürich.

Vom Schützengraben in den Hörsaal: Kriegsversehrte und internierte Studenten an der ETH Zürich im Ersten Weltkrieg

$
0
0

Die Schweiz muss ihm wie das Paradies erschienen sein. Nach eineinhalb Jahren in einem Lager für Kriegsgefange in Deutschland durfte der 25-jährige französische Infanterist Jean Chopin im Frühling 1916 in die neutrale Schweiz ausreisen. Endlich, nach mehr als drei Jahren Unterbruch, konnte er im Herbst 1917 wieder an ein Studium denken.

Chopin_Formular

Bewerbungsformular für Internierte, die in der Schweiz studieren wollten.
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv der ETH Zürich, Matrikel Chopin EZ-REK 1/1/14931)

Jean Chopin setzte sein Studium der Pharmazie, das er vor dem Krieg an der Universität Dijon begonnen hatte, nun in Zürich fort. Neben ihm studierten an der ETH während des Ersten Weltkriegs noch weitere Internierte, die meisten stammten aus Deutschland, aber auch aus Frankreich, Österreich-Ungarn, der Türkei und Grossbritannien. Die Bewilligung zum Studium als Hörer und Diplomstudenten an der ETH erhielten rund 80 Militärinternierte. In der ganzen Schweiz waren insgesamt über 1650 internierte Studenten an Hochschulen eingeschrieben.

Die internierten Studenten unterstanden militärischer Disziplin, obwohl ihnen in der Stadt Zürich das Tragen ihrer Militäruniform verboten war. Sie sollten wohl möglichst unauffällig sein, um eventuelle Anfeindungen auf der Strasse zu vermeiden. Das Flanieren am Limmatquai, an der Bahnhofstrasse oder gar das Stehenbleiben auf der Strasse war verboten!

Matrikel_Chopin_bearbeitet

Ausschnitt aus der Studentenmatrikel von Jean Chopin. Der Stempel für Internierte ist gut erkennbar.
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv der ETH Zürich, EZ-REK 1/1/14931)

Für eine Internierung in der Schweiz kamen nur schwer kranke oder verletzte Kriegsgefangene in Frage (sowie Kriegsgefangene, die Väter von mehr als drei Kindern waren). Jean Chopin hat als Gründe für seinen Transfer in die Schweiz Neurasthenie (Nervenschwäche), Herzschwäche und Nierenprobleme angegeben. Chopins Landsmann André Ayçoberry hatte im Krieg ein Auge verloren. Er studierte an der ETH Maschinenbau und amtierte als Präsident des privaten Hilfsvereins „Amicale des internés alliés à Zurich“.

Bahnhof_bearbeitet
Internierte französische Offiziere werden im Bahnhofbuffet Zürich verpflegt (Ausschnitt aus dem stark bearbeiteten Titelbild der Schweizer Illustrierten Zeitung, 19.2.1916, Nr. 8)

Dass die Schweizer Regierung bereit gewesen war Internierte aufzunehmen, hatte primär humanitäre Gründe, doch gab es eine Reihe weiterer Argumente, die dafür sprachen:

  • Für die Schweizer Hotellerie waren die Internierten eine willkommene Einkommensquelle, denn seit Ausbruch des Krieges waren die Touristen ausgeblieben. Nun bezahlten die Heimatländer den Aufenthalt der Internierten in den Ferienregionen der Schweiz.
  • Der Bundesrat konnte die Internierten bei Verhandlungen mit ausländischen Regierungen um die Höhe von Lebensmittelimporten als Argument anführen.
  • Kriegsversehrte Internierte boten Schweizer Ärzten die Gelegenheit, die Wirkung moderner Kriegswaffen zu erforschen und neue Therapien zu entwickeln.

Von 1916 bis 1918 fanden insgesamt 70‘000 Internierte in der Schweiz Aufnahme. Da viele noch vor Kriegsende in ihre Heimatländer ausreisen durften, waren nie mehr als 30‘000 Internierte gleichzeitig im Land. Auch Chopin und Ayçoberry brachen ihr Studium an der ETH Zürich schon im Sommer 1918 ab, da sie in ihre Heimat Frankreich zurückkehren durften.

 

Veranstaltungshinweis: Das Hochschularchiv der ETH Zürich  bietet am Dienstag 31.3.2015 einen Einblick in seine Bestände. Die öffentliche Abendführung “Zwischen Hörsaal und Schützengraben: ETH-Angehörige im Ersten Weltkrieg” beginnt um 18:15 Uhr im Lesesaal “Sammlungen und Archive” der ETH-Bibliothek (ETH-Hauptgebäude, H-Stock). Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

 

Quellen: Die Studentenmatrikel der Diplomstudierenden sowie die Listen der Auditoren sind einsehbar im Hochschularchiv der ETH Zürich.

Roland Gysin: „Und wir möchten helfen.“ Die Internierung verletzter Soldaten und Offiziere. In: Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkrieges, hrsg. v. Erika Hebeisen et al. Zürich 2014, S. 109-117.

Thomas Bürgisser: „Menschlichkeit aus Staatsräson.“ Die Internierung ausländischer Kriegsgefangener in der Schweiz im Ersten Weltkrieg.“ In: 14/18: die Schweiz und der Grosse Krieg, hrsg. v. Roman Rossfeld et al. Zürich 2014, S. 266-289.

Eine Herrenpartie auf Ostereiersuche?

$
0
0

Was hier aussehen mag wie eine Herrenpartie auf Ostereiersuche, ist in Tat und Wahrheit eine Gruppe von Botanikern beim Studium von Kaninchenhügeln in Silverdale, England im Jahr 1911.

England 1911. Silverdale. Kaninchenlägerhügel in der Wiese v.

England 1911. Silverdale. Kaninchenlägerhügel (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_282-0505)

Im Zentrum des Interesses sind dabei nicht die Kaninchen und deren Wohnung, sondern die Gräser Festuca ovina und Carex verna. Bei den abgebildeten Personen handelt es sich um Wissenschaftler aus dem Umkreis des Titularprofessors für Geobotanik Eduard August Rübel (1876-1960). Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass der sich bückende Herr vorne in der Mitte Rübel ist. Dieser war als Geobotaniker unermüdlich auf Reisen und Exkursionen unterwegs. Wie man der Biografie von Eduard Rübel-Kolb im Zürcher Neujahrsblatt auf das Jahr 1970 entnehmen kann,

[…] wurde in Cambridge im Jahre 1911 erstmals eine Internationale Pflanzengeographische Exkursion (IPE) durchgeführt. Sie leitete Pflanzengeographen, Pflanzensoziologen und –ökologen aus aller Welt durch ausgewählte Länder. Unter Führung einheimischer Forscher lernten sie in gemeinsamer Begehung die Vegetation kennen und konnten die besonderen Objekte direkt auf dem Feld diskutieren, damit gemeinsame Auffassungen erarbeitend (S. 21).

Das Bild wurde folglich auf der ersten von einer ganzen Serie solcher Reisen aufgenommen. Es folgten Exkursionen in die USA (1913), die Schweiz (1923), Schweden und Norwegen (1925), Tschechoslowakei und Polen (1928), Rumänien (1931) und Mittelitalien (1934). Die lange Pause zwischen 1913 und 1923 ist auf den Ersten Weltkrieg zurückzuführen. Rübel musste schliesslich aufgrund eines Knieleidens von weiteren Exkursionen absehen, war aber weiterhin an der Auswertung der Resultate beteiligt.

Literatur:

Eduard Rübel-Kolb, Eduard Rübel-Blass, 1876-1960, Zürich: 1970.

Eine gewisse Miss Simons – Zum 80. Todestag von Emmy Noether

$
0
0

Die Schweizerische Mathematische Gesellschaft hatte auf Anfang September 1932 nach Zürich geladen zum internationalen Kongress. Was Rang und Namen hatte in der abstrakten Wissenschaft und ausserdem trotz Wirtschaftskrise die nötigen Mittel aufbrachte, reiste an die Limmat.

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932. Foto: Johannes Meiner & Sohn, Zürich (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_10680-FL)

Die Anwesenheit am nicht alltäglichen Anlass wollte dokumentiert sein. Daher drängte sich eine Teilmenge der 850 Gäste aus über 40 Ländern in dichten Reihen auf dem Vorplatz des südwestlichen Universitätseingangs zum offiziellen Erinnerungsbild. Das Atelier Johannes Meiner & Sohn, erfahren in der Herstellung figurenreicher Gruppenaufnahmen, war beauftragt, die vielköpfige Schar mit der Kamera zu verewigen. Damit die Abgebildeten später würden nachsehen können, wer vor, hinter und neben ihnen mit dabei gewesen war, verkaufte die findige Firma für Franken 7.50 inklusive Versandkosten die Fotografie mit einem Transparentpapier, das sich auf das Lichtbild legen liess. Der Papierschleier war bedruckt mit 219 Nummern, verteilt über die identifizierten Personen, und der zugehörigen Namensliste.

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932 mit darübergelegtem Personenschlüssel auf Transparentpapier (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_10680-C-FL)

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932

Rechts aussen beispielsweise, in der ersten stehenden Reihe hinter den vorne Sitzenden, blüht zwischen mehr oder minder ranken Rechnerinnen und Formelkonstrukteuren eine helle Figur in runder Leibesfülle. Die Nummer 213. Laut Namensliste eine „Miss Simons“. Wie bitte, wer? War sie inkognito erschienen? Lag eine Verwechslung vor? Ein schräger Scherz von der Porträtierten selber? Ein Fauxpas der Fotofirma? Eine Falschinformation durch die Kongressorganisation? Eine Intrige der fotografischen oder mathematischen Konkurrenz? In der Liste ist der richtige Name nicht zu finden. Dennoch: Die stattliche Gestalt ist unverkennbar Emmy Noether.

Internationaler Mathematikerkongress, Zürich 1932

Emmy Noether, geboren 1882, war das bekannteste Mitglied einer Mathematikerfamilie. Sie lehrte in Göttingen. Hier genoss sie zusammen mit einer Professorengattin das Privileg, als Frau im örtlichen Männerbad schwimmen zu dürfen. Die Universität hingegen, das damalige Weltzentrum der Mathematik, beziehungsweise das zuständige Ministerium, verweigerte ihr wegen des weiblichen Geschlechts 1917 die Habilitation. In der Fakultätssitzung, die den Habilitationsantrag an das Ministerium diskutierte, soll der Satz gefallen sein: „Die Universität ist keine Badeanstalt“. Emmy Noether musste deswegen ihre Vorlesungen unter dem Namen ihres professoralen Vorgesetzten ankündigen. Dank einer Gesetzesänderung nach dem Ersten Weltkrieg wurde ihr 1919 die selbständige universitäre Lehrberechtigung doch noch zugesprochen. Allerdings blieb ihr eine ordentliche akademische Karriere weiter verwehrt. Ab 1922 durfte sie den Titel eines ausserordentlichen Professors tragen, musste jedoch wie bisher als Privatdozentin auf eigene Rechnung unterrichten, erst ab 1923 erhielt sie einen gering bezahlten Lehrauftrag.

Hs_973_177_0-1 - Kopie

„Zur Flächentheorie. Kolleg v. Frl. Noether über abstr. Algebra (Anfang)“. Stenografische Notizen von Paul Bernays (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 973:177)

Die bescheidene offizielle Stellung schadete dem Ansehen Emmy Noethers in der Wissenschaftswelt keineswegs, denn ihre Forschungen trugen grundlegend zur modernen Algebra und zur theoretischen Physik bei. In Göttingen vermochte sie eine eigene Schule von mathematischen Talenten um sich zu versammeln. Aus den Reihen von Kollegen, die sich von ihren Erkenntnissen inspirieren liessen, und ihren ehemaligen Studierenden wirkten auch einige als Professoren an der ETH und der Universität Zürich, wie Hermann Weyl, Paul Bernays, Heinz Hopf und Bartel Leendert van der Waerden.

Hs_91_692-2 - Teil

Brief Emmy Noether an Hermann Weyl, Göttingen 12. März 1927. Sie bittet den damals an der ETH lehrenden Weyl um ein Empfehlungsschreiben für ihre Schüler Pawel Alexandroff und Heinz Hopf, die sich um ein Studienstipendium für die USA bemühen.

Am Internationalen Mathematikerkongress1932 hielt Emmy Noether einen der sogenannten „Grossen Vorträge“ vor Gesamtpublikum. Der Kongress war der zweite in Zürich nach demjenigen von 1897, auf politisch neutralem Boden in der Schweiz. Erstmals hatten auch wieder Forschende aus Deutschland vorbehaltlos teilnehmen können, nachdem in der Folge des Ersten Weltkriegs eine deutsche Beteiligung an internationalen mathematischen Treffen nicht mehr erwünscht gewesen war. Die Entspannung währte nur kurz. 1933 drängten die neuen nationalsozialistischen Machthaber Deutschlands jüdische Staatsangestellte aus ihren Positionen. Emmy Noether emigrierte in die USA. Freunde, die ebenfalls im amerikanischen Exil Zuflucht gefunden hatten, vermittelten ihr eine Gastprofessur am Women’s College Bryn Mawr in Pensylvania. Ab 1934 wirkte Emmy Noether auch am Institute for Advanced Study in Princeton. Am 14. April 1935 starb sie dreiundfünfzigjährig in Bryn Mawr an den Folgen einer Unterleibsoperation.

Hinweise und Literatur:

In verschiedenen Privatbeständen von Mathematikern, die im Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek archiviert sind, befinden sich Briefe und andere Dokumente von und über Emmy Noether.

Auguste Dick: Emmy Noether 1882-1935. Elemente der Mathematik – Beiheft Nr. 13. Birkhäuser: Basel, Stuttgart, 1970.

Günther Frei, Urs Stammbach: Die Mathematiker an den Zürcher Hochschulen. Birkhäuser: Basel, Boston, Berlin, 1994. Darin S. 5-8 zum Internationalen Mathematikerkongress 1932.

Johannes und Hans Meiner. Fotografiertes Bürgertum von der Wiege bis zur Bahre, hg. Fritz Franz Vogel. Limmat: Zürich, 2005. Darin S. 10 die Beschreibung des Fotografierens bei Gruppenaufnahmen von ETH und Universitätsprofessoren, in der Familie Meiner als „Chäfersammlig“ [Käfersammlung] bezeichnet.

Hs_637_2-6 -200dpi

Wellenmechanik: Emmy Noether zusammen mit anderen Teilnehmenden des Internationalen Mathematiker-Kongresses 1932 bei einer Dampferfahrt auf dem Zürichsee nach Rapperswil. Foto: Jean Zülly, Küsnacht ZH (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 632:2/6)

Ein Stück Mond in Zürich – Die Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich 1970

$
0
0

„Houston, Tranquillity Base here. The Eagle has landed.“

Mit diesem Ausspruch von Neil Armstrong gipfelte das Wettrennen zum Mond, das zwischen den USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg ausgetragen wurde, am 20. Juni 1969 in der ersten Mondlandung (Jaumann 2009, 36). Die folgenden Jahre bis zur letzten Landung auf dem Mond im Dezember 1972 waren in vielerlei Hinsicht prägend und beeinflussten eine gesamte Generation. Auch die Schweiz und ganz speziell die ETH Zürich waren vom „Mondfieber“ ergriffen und mit dem Sonnenwindexperiment zur Messung eines von der Sonne ausgehenden Teilchenstroms quasi mit an Bord der Mondfähre gewesen (Grünenfelder 1972, 8). An den Auswertungen der Ergebnisse und den Untersuchungen des Mondgesteins wirkte die ETH Zürich mit. Und 1970 kam der Mond Zürich tatsächlich zum Greifen nah: Ein Stück Mondstein wurde im Rahmen einer Ausstellung vom 21. bis zum 23. Mai der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ausstellung wurde fotografisch von Hans Krebs dokumentiert, der im Auftrag der Comet Photo AG arbeitete. Die Fotografien der Ausstellungsreportage, deren Filmnegative im Bildarchiv der ETH Zürich aufbewahrt sind, geben Aufschluss über den Umgang mit den Ereignissen rund um die Mondlandung Anfang der 1970er Jahre und ermöglichen es, die Rolle von Bildern in Wissensprozessen genauer in den Blick zu nehmen: Was können die Fotografien über die Rolle des Mondsteins im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus den Mondproben aussagen? Was erzählen sie über den Umgang mit Wissen und der Vermittlung von diesem?

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 1: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 2: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 3: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Betrachtet man die Bilder, die Nahaufnahmen des Mondgesteins aus der Ausstellung zeigen (Abb. 1, 2 und 3), fällt auf, dass der Mondstein selbst erstaunlich unspektakulär aussieht. Optisch unterscheidet er sich nicht von Steinen, die man auf der Erde finden kann. Zudem ist er sehr klein. Die Neue Züricher Zeitung schreibt dazu in einem kurzen Artikel über die Ausstellung:

[...] ein Stück vom Mond, etwa in der Größe einer Nuß, 32 Gramm schwer, ein kleiner, unscheinbar wirkender Teil jener Gesteinsproben, welche die Mannschaft von Apollo 11 von ihrem historischen Mondflug auf die Erde zurückbrachte (NZZ 1970, 29).

Ein Blick in die Broschüre, die im Rahmen der Ausstellung veröffentlicht wurde, zeigt, dass der Mondstein in der Ausstellung selbst gar nicht die entscheidende Rolle spielt. Genaugenommen wird in der Broschüre überhaupt nicht erwähnt, dass ein Stein vom Mond an der ETH zu sehen ist. In ihr wird zwar von den ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen der ersten beiden Mondlandungen berichtet, aber kaum Bezug zur Ausstellung genommen. Der Stein kann anhand seiner Bezeichnung, die in der Neuen Züricher Zeitung genannt wird, einem Sample von Fundstücken aus einem Untersuchungsbericht der NASA zugeordnet werden. Er gehört demzufolge zur gleichen Gruppe von Gesteinen wie ein weiterer Mondstein, der in der Broschüre abgebildet ist, und entspricht damit hinsichtlich seiner Beschaffenheit in etwa irdischen Basalten (NASA 1975). Dies bedeutet, dass nicht nur der optische Eindruck des ausgestellten Mondsteins, sondern auch die chemische Zusammensetzung kaum auffällig ist. Der Mondstein selbst bot also in wissenschaftlicher Hinsicht kaum Neues. Warum also so viel Aufwand mit der Ausstellung des Stein und seiner Vorrichtung?

Nimmt man weitere Bilder der Ausstellung zur Hand (Abb. 4, 5 und 6), so zeigt sich, dass der Mondstein trotz seiner Unscheinbarkeit und des geringen wissenschaftlichen Neuigkeitswerts, eine ungeheure Faszination bei den Betrachtenden, die sich um den Stein herum drängen, auslöste.

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 4: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 5: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 6: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Auf den Fotos ist zu sehen, dass der Mondstein nicht in einer klassischen rechteckigen Ausstellungsvitrine angeordnet ist, sondern durch die Plexiglasschutzhülle einen eigenen “Kosmos” erhält, dessen Mittelpunkt er bildet. So ist er nicht nur im übertragenen Sinne der Mittelpunkt der Ausstellung, sondern auch im ganz wörtlichen Sinn das Zentrum. Dieser Eindruck, hervorgerufen bereits durch die Form der Schutzhülle, wird durch die Lichtreflexionen der Deckenleuchten, die auf den Fotos prägnant zu sehen sind, noch verstärkt. Die Lichtreflexe winden sich regelrecht um den Stein, und erzeugen die optische Wirkung, dass er eine geheimnisvolle Kraft ausstrahlt, die die Lichtstrahlen anzieht und in seine Bahnen lenkt. Die Reflexe inszenieren ihn geradezu als ein heiliges Objekt, das im Gegensatz zu der profanen Erscheinung des Steins an sich steht (Schenkel 2013, xii).

Die Art der Präsentation des Steins legt nahe, dass es um mehr geht, als um den Stein an sich. Hier wird mithilfe der Inszenierung eine Narration geschaffen, die etwas zeigen soll, was über den Stein als Objekt hinausgeht. Die technische Leistung des Menschen, auf dem Mond gelandet zu sein. Der Stein wird damit zum pars pro toto, zum Stellvertreter für den Mond, und bekommt die Rolle eines Zeugen. Er schafft die Beweiskraft für die Mondlandungen und für die wissenschaftlichen Erkenntnisse daraus. Er wird zur Referenz und liefert dadurch Evidenz (Latour 1996, 199f. und 237ff).

Doch diese Evidenz ist nicht hieb- und stichfest. Dadurch, dass der Mondstein sich sowohl optisch, als auch chemisch kaum von Steinen auf der Erde unterscheidet, braucht der Stein selbst die Ausstellung mitsamt einer Reihe weiterer Exponate, Bilder und Erläuterungen um ihn herum, um ihn zum Mondstein zu machen. Der Mondstein ist für die Öffentlichkeit also nur dann ein Mondstein, wenn er als solcher inszeniert wird, wenn er in den Kontext der Raumfahrt und der Erzählung der Mondexpedition gestellt wird, wie es beispielsweise ein weiteres Foto der Ausstellung zeigt (Abb. 7) (Wagner 2007, 98).

Mondgestein-Ausstellung in der ETH

Abbildung 7: Hans Krebs, Mondgestein-Ausstellung an der ETH Zürich. 1970.

Die Untersuchung des Mondes anhand von Mondsteinen an der ETH war 1970 übrigens noch nicht abgeschlossen. Zwei Jahre später gab Peter Signer, der an der Ausstellungsbroschüre und vermutlich an der Ausstellung selbst beteiligt gewesen war, beim Photographischen Institut der ETH Zürich einige Fotografien von weiteren Mondsteinen in Auftrag. Die Steine, die dort abgelichtet wurden, entsprechen dabei weder dem zum Star gewordenen Mondstein der Ausstellung, noch den Abbildungen von Mondsteinen, die in der Broschüre waren. Jenseits des öffentlichkeitswirksamen Rummels um einen einzigen Mondstein waren also noch mehr Mondsteine zumindest zeitweise in Besitz der der ETH und damit in Zürich. Allerdings wurden sie jedoch nicht einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern hinter den verschlossenen Türen der Institute untersucht.

Literaturangaben:

Armstrong, Neil zitiert nach Edwin „Buzz“ Aldrin Jr. zitiert nach Jaumann, Ralf und Köhler, Ulrich. Der Mond, Entstehung, Erforschung, Raumfahrt. Köln: Fackelträger Verlag, 2009.

Grünenfelder, Marc. Der Mond Ausstellung von Mondgestein, Erste Wissenschaftliche Ergebnisse. Zürich: ETH, 1972.

Latour, Bruno. Der “Pedologen-Faden” von Boa Vista – eine photophilosophische Montage. In: Der Berliner Schlüssel : Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag, 1996.

NASA. 10017. 1975. S.3. Unter: http://curator.jsc.nasa.gov/lunar/catalogs/apollo11/10017.pdf [24.01.2015]

o.A. Nummer 10 017.60 auf Tournee. Mondgesteinausstellung in der ETH. In: Neue Züricher Zeitung, Ausgabe Nr. 229 vom 21.5.1970.

Schenkel, Elmar. Unterwegs in den Weltraum. In: Sonne, Mond und Ferne : der Weltraum in Philosophie, Politik und Literatur. Herausgegeben von Elmar Schenkel und Kati Voigt. Frankfurt am Main: PL Academic Research, 2013.

Wagner, Monika. Besuch aus dem All. Der Stein vom Mond und die Magie der Berührung. In: Bild/Geschichte : Festschrift für Horst Bredekamp. Herausgegeben von Philine Helas et al.Berlin: Akademie, 2007.

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0218 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 2: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0216 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 3: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0220 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 4: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0311 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 5: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0333 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 6: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0322 / CC BY-SA 4.0

Abbildung 7: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv\k / Fotograf: Krebs, Hans, Fotograf / Com_L19-0276-0119 / CC BY-SA 4.0

Viel Licht für grosse Leinwände – Der Eidophor

$
0
0

Anlässlich des “Jahr des Lichts 2015″ erinnern wir uns an ein Projektionsgerät aus der Anfangszeit des Fernsehzeitalters, den von ETH-Professor Fritz Fischer (1898-1947) entwickelten Eidophor (gr. “Bildbringer”).

Zürich, ETH Zürich, Abteilung für industrielle Forschung, Ers

Wies noch viele Mängel auf: Erster Prototyp des Eidophor-Projektors, 1943 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, PI_42-G-0049)

Fischer war Vorsteher des Instituts für technische Physik und Vorstand der Abteilung für industrielle Forschung AFIF. Er galt als äusserst ideenreich und kreativ. Eine seiner frühen Ideen war die Machbarkeitsstudie für die grossflächige Projektion von Fernsehbildern. Darin kam er zum Schluss, dass Kathodenstrahlröhren für die Projektion von Bildern auf Grossleinwand zu wenig hell und deshalb ungeeignet sind. Sein 1939 patentierter Eidophor arbeitete folglich mit der zusätzlichen Lichtquelle einer Bogenlampe.

Zweiter Prototyp des Eidophor-Fernsehgrossprojektors

Zu sperrig: Zweiter Prototyp des Eidophor-Fernsehgrossprojektors, 1948 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Ans_04405)

Nach einer Entwicklungszeit von etwa vier Jahren nahmen Fritz Fischer und sein Team am 31. Dezember 1943 den erste Prototyp des Projektors in Betrieb. Dieser lieferte aber noch keine einwandfreien Bilder. Ein zweiter Prototyp nahm zwei Stockwerke im alten Physikgebäude ein, und wurde infolge des frühen Todes von Fritz Fischer im Dezember 1947 unter der Leitung des neuen Institutsvorstehers Ernst Baumann fertiggestellt. Die weitere Entwicklung erfolgte durch die Industrie, nämlich durch Fischers Freund Edgar Gretener und seine Firma Gretag, die den Projektor gegen das Konkurrenzmedium Television zu vermarkten suchte. Zu diesem Zweck musste das sperrige Gerät zuerst verkleinert werden. Tatsächlich zeigte die amerikanische Filmindustrie, darunter insbesondere 20th Century Fox, Interesse an den Geräten, das aber mit der Entwicklung von Cinemascope und Widescreen schnell wieder verblasste. Im Kino konnte sich der Projektor längerfristig nicht behaupten.

The five-foot-high Eidophor projector [...]

In Serienproduktion hergestellt: Der Eidophor Typ ep 2, 1959 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Ans_04408-001)

Nach dem Tod von Edgar Gretener übernahm 1958 die CIBA in Basel die Weiterentwicklung des Eidophor, der nun vorwiegend in der Medizintechnik und im universitären Bereich Verwendung fand. So konnte beispielsweise 1959 in München eine Operation am offenen Herzen von Rudolf Zenker live an einer internationalen medizinischen Kongress übertragen werden (Johannes, S. 35). In den USA gehörten schliesslich das Pentagon, die Armee, die NASA und verschiedene Sportstadien zu Eidophor-Abnehmern. Die Projektoren waren in der Regel langlebig und zuverlässig. Ende der 90er-Jahre wurden “… fix installierte und jahrzehntelang im Einsatz stehende Eidophor-Geräte durch DLP- oder LCD-Technologien einer neuen Generation abgelöst … (Meyer, S. 347).”

Eidophor

Jack Metzger: Eidophor, Mai 1959 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Com_L08-0070-0313)

Literatur:

Johannes, Heinrich: The history of the EIDOPHOR large screen television projector. Regensdorf und Zürich: Gretag, 1989.

Meyer, Caroline:  Der Eidophor: Ein Grossbildprojektionssystem zwischen Kino und Fernsehen 1939-1999. (Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, 15). Zürich: Chronos-Verlag, 2009.

Im Bildarchiv der ETH-Bibliothek ist ein Film zum Eidophor vorhanden: Regie: Max Haufler; Kamera: Otto Ritter; Trickzeichnung: Erwin Rösler; Produktion: Gloriafilm AG Zürich; Zürich: ca. 1944; (17:20 Min.), Signatur FILM A 31:1.

 

Noblesse oblige – Nobelpreisträger der ETH Zürich

$
0
0

Auch Nobelpreisträger sind nur Menschen, mehr oder minder nobel, der Wissenschaft und dem eigenen Ehrgeiz verpflichtet: Sie erschrecken ihre Mutter mit Leichtsinn und Laborunfällen. Sie verderben Kollegen den Appetit und gewissen Gaststätten das Geschäft…

Hs_1353-009_72dpi

Nobelpreisurkunde 17. Oktober 1975 für Vladimir Prelog, Professor für organische Chemie an der ETH Zürich (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 1353:9)

… Sie werden aus der Schule geworfen und studieren trotzdem. Sie werden Privatdozent mit Forschungsergebnissen, die ein anderer längst veröffentlicht hat. Sie erhalten Hausverbot wegen übersinnlicher Fähigkeiten. Sie bauen und zünden Bomben. Sie verwandeln Schweinsgestank in wohlriechendes Herrenparfum. Sie quasseln akademische Gäste zu Tode.

Das Hochschularchiv der ETH Zürich lädt Sie herzlich ein zur Führung durch überraschende und bekannte Originaldokumente aus seinen Beständen zu wissenschaftlichen Leistungen und menschlichem Alltag von 22 Nobelpreisträgern der ETH Zürich:

Nobelpreisträger der ETH Zürich. Highlights aus dem Hochschularchiv der ETH Zürich

Donnerstag, 3. September 2015

18.00-19.00 Uhr

ETH Zürich

Treffpunkt: Ausleihe ETH-Bibliothek im Hauptgebäude, H-Stock, Rämistrasse 101

Keine Anmeldung erforderlich. Teilnahme kostenlos.

 

Die Führung findet statt im Rahmen der Begleitveranstaltungen zur Ausstellung Einstein & Co. – Zürich und der Nobelpreis, Stadthaus Zürich, 12. Juli bis 14. November 2015.

The post Noblesse oblige – Nobelpreisträger der ETH Zürich appeared first on ETHeritage.


Gegen Faschismus und Tuberkulose – Leopold Ruzickas Engagement für Jugoslawien

$
0
0

Am 9. Dezember 1944 gründete der ETH-Professor und Nobelpreisträger Leopold Ruzicka das Schweizerisch-jugoslawische Hilfskomitee. Doch nicht allen Gesellschaftskreisen in der Schweiz behagte die Hilfe für ein Land, in dem schleichend der Kommunismus aufgebaut wurde.

Ruzicka vor Bücherwand, Wohnung

Nobelpreisträger Prof. Leopold Ruzicka im Jahr 1967, ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Com_L16-0150-0104, DOI: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000049822

Das Schicksal des im April 1941 von der deutschen Wehrmacht zerschlagenen Jugoslawiens lag Leopold Ruzicka sehr am Herzen. Seit 1917 besass er die Schweizer Staatsbürgerschaft, bezeichnete sich aber stets als Jugoslawe kroatischer Abstammung. Er hegte grosse Sympathien für die von den Kommunisten angeführte jugoslawische Volksbefreiungsbewegung. Diese führte nicht nur einen erfolgreichen Widerstandskampf gegen die faschistischen Besatzungsmächte und ihre einheimischen Kollaborateure, sondern versprach auch die nationale und soziale Befreiung der verschiedenen untereinander zerstrittenen Völker. In der bosnischen Stadt Jajce wurde am 29. November 1943 mit den historischen Beschlüssen des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens die monarchistische Vorkriegsordnung abgeschafft und der Grundstein für einen föderalistischen Staat gelegt.

Jajce, Bosnien

Jajce, Bosnien, Mitte 1930-er Jahre, ETH-Bibliothek, Bildarchiv, LBS_MH02-48-0074, DOI: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000448823

Den Anstoss für die Gründung des Schweizerisch-jugoslawischen Hilfskomitees im Dezember 1944 gab der Besuch des ersten von Marschall Tito in die Schweiz entsandten Sanitätsobersten sowie die im Herbst 1944 vorausgegangene erste Ärztemission der Centrale Sanitaire Suisse (CSS) bei den jugoslawischen Partisanen. Die linksorientierte Ärzteorganisation, die bereits im Spanischen Bürgerkrieg gewirkt hatte, berichtete über die katastrophale medizinische Versorgungslage in Jugoslawien. Primitivste Mittel wie Holzsägen und Äxte dienten als chirurgisches Amputationswerkzeug. Tuberkulose wütete im ganzen Land.

Aufgrund seines hohen Ansehens gelang es Ruzicka, namhafte und ranghohe – und durchaus nicht nur politisch links stehende – Persönlichkeiten aus der Schweizer Politik, Wirtschaft und Wissenschaft für dieses humanitäre Projekt zu gewinnen. Zu den Mitgliedern zählte auch sein Landsmann Mirko Ros, Direktor der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (EMPA).

Mitgliederliste des Schweizerisch-jugoslawischen Hilfskomitees, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1191: 381

Primäre Aufgabe des Komitees war es, Vermittlungsleistungen zu betreiben und eigene finanzielle Mittel für die Beteiligung an einzelnen Aktionen zu akquirieren. Im Nachlass von Leopold Ruzicka, der im Hochschularchiv der ETH Zürich aufbewahrt wird, findet sich ein reger Schriftverkehr zwischen Ruzicka und den Vertretern der Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten. Dieser lässt darauf schliessen, dass es zu einem erheblichen Teil Ruzickas Vermittlungsdiensten zu verdanken war, dass Jugoslawien in die Nachkriegshilfe der mit Bundesgeldern ausgestatteten Schweizer Spende aufgenommen wurde. Mit einer Summe von insgesamt mehr als 4 Mio. Schweizer Franken unterstütze die Schweizer Spende diverse humanitäre Hilfsprojekte vor Ort. Nebst dem Engagement bei der Beschaffung von Sanitätsmaterial und Medikamenten kümmerte sich das Komitee um die Hospitalisierung tuberkulosekranker Kinder im Tessin und um die jugoslawischen Flüchtlinge in der Schweiz, indem es beispielsweise Praktika für Jugoslawinnen im Gesundheitswesen vermittelte.

Trotz Ruzickas hoher gesellschaftlicher Reputation stiess die Gründung des Hilfskomitees insbesondere bei antikommunistisch eingestellten Kreisen auf Kritik. Sie witterten hinter den karitativen Zielen des Komitees eine politische Einflussnahme „radikaler Linkskreise“. Der NZZ-Redaktor Edwin Arnet lehnte aus diesem Grund eine Mitgliedschaft im Komitee ab. Er schrieb an Ruzicka:

Ihnen persönlich hätte ich gerne eine Zusage gegeben, nachdem ich mich aber davon überzeugen lassen musste, dass am jugoslawischen Hilfskomitee neben durchaus anerkennenswerten Kräften solche der radikalen Linkskreise mitwirken, die politische Inspirationen mit einem humanitären Kleid zu bemänteln suchen, und nachdem ich vor allem erfahren musste, dass Nationalratspräsident Aeby und Nationalrat Dr. Wick aus diesen Gründen aus dem Komitee ausgetreten sind, musste auch ich mich zu einer Absage entschliessen. (Edwin Arnet an Leopold Ruzicka, 22.03.1945, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1191: 67a)

Diesen Vorwurf wollte und konnte Ruzicka natürlich nicht auf sich sitzen lassen und antwortete in scharfem Ton auf diese „deplacierte politische Gesinnungsschnüffelei“:

Leopold Ruzicka an Edwin Arnet, 6.4.1945, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1191: 79

Mit der Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien in der unmittelbaren Nachkriegszeit und der zunehmenden Ost-West-Spaltung sah sich auch das Schweizerisch-jugoslawische Hilfskomitee konfrontiert. Der Pfarrer Julius Kaiser, der ab Ende 1945 das Präsidium übernommen hatte, richtete sich am 7. November 1947 verbittert an Ruzicka:

Ich rüstete mich auf die Reise nach Belgrad, um mit eigenen Augen zu sehen, was zu machen ist. Nun kam gestern die überraschende Nachricht vom Generalkonsulat, dass Jugoslavien sofort alle ausländischen Hilfeleistungen abstoppt! Für uns kann es nun nichts anderes geben, als unser Hilfskomitee zu liquidieren […]. Es ist bedauerlich, dass in Belgrad solche doktrinären Ansichten oben aus schwingen und wir damit vor die Unmöglichkeit gestellt werden, dem jugoslavischen Volke zu helfen. (Julius Kaiser an Leopold Ruzicka, 7.11.1947, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1191: 334)

Zur gleichen Zeit wurden auch Mitarbeiter der Schweizer Spende von den jugoslawischen Behörden der Spionagetätigkeit bezichtigt. Notgedrungen beendete auch das Schweizerisch-jugoslawische Hilfskomitee im Frühling 1948 endgültig seine karitative Tätigkeit für das Zweite Jugoslawien, das sich damals noch als sowjetischer Musterschüler erwies.

 

Literatur:

Bundesratsprotokoll (PVCF), Nr. 193. Aussergerichtliche Untersuchung gegen Herrn Parin und Konsorten, Mitarbeiter der Schweizer Spende in Jugoslawien, online unter: http://db.dodis.ch/document/5424# (Stand 04.09.2015)

Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010.

CSS (Hg.): 50 Jahre Centrale Sanitaire Suisse. Ein historischer Abriss 1937-1987, Zürich 1987.

Oberkofler, Gerhard: Leopold Ruzicka (1887-1976). Schweizer Chemiker und Humanist aus Altösterreich, Innsbruck 2001.

Zentralstelle der Schweizer Spende (Hg.): Die Schweizer Spende 1944-1948. Tätigkeitsbericht, Lausanne, Zürich 1949.

The post Gegen Faschismus und Tuberkulose – Leopold Ruzickas Engagement für Jugoslawien appeared first on ETHeritage.

Beginn mit Brummschädel – Erster Schultag 1855

$
0
0

Vor 160 Jahren, am 16. Oktober 1855, begann für 68 Studierende das Studium am frisch gegründeten Eidgenössischen Polytechnikum, der heutigen ETH Zürich. Natürlich beschloss der Schweizerische Schulrat dies schweizweit und sogar bis nach Augsburg via Printmedien kund zu tun:

 

„Es sei ein Auszug aus vorstehendem Lektionenverzeichnisse einmal in die N.Z. Zeitung, Bund, Basler Zeitung, Revue de Genève, Journal de Genève, Nouvelliste Vaudois, Républicain de Neuchâtel, Confédéré de Fribourg, Democrazia in Tessin und der Allg. Augsburger Zeitung in folgender Form einzurücken:

Eidgenössische polytechnische Schule:

Der Unterricht des Schuljahres 1855/56 beginnt an der eidg. polyt. Schule am 16. Okt. 1855 und schliesst mit dem 16. August 1856.“

 

Darauf folgt eine seitenlange Beschreibung der Fächer und der angebotenen Kurse.

 SR2_1855_klein

Sitzungsprotokoll des Schweizerischen Schulrats vom 29.08.1855 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR2:1855, S. 142.)

 

Die Studenten der ersten Stunde stammten aus allen Sprachregionen der Schweiz sowie aus Deutschland (2) und England (1). Zu diesem ersten Schultag ist leider nur wenig überliefert. In den Protokollen des Schweizerischen Schulrats wird ebensowenig darüber berichtet wie im Tagebuch des ersten Direktors der SchuleJoseph Wolfgang von Deschwanden. Allerdings lässt sein Tagebucheintrag vom Vortag starke Zweifel daran aufkommen, dass die Studenten vollzählig in der ersten Unterrichtsstunde erschienen sind:

 

15. Okt. Mittags Eröffnungsfeier des eidgen. Polytechn. u. Abends den grössten Theil der Schüler in besoffenem Zustande. Wahrlich ein niederschlagender, ärgerlicher Anfang!”

 

Hs_142_17_klein

Tagebuch Joseph Wolfgang von Deschwandens vom 16. April 1855 bis 13. März 1856 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 142: 17)

Der Unterricht fand übrigens noch nicht im heutigen Hauptgebäude der ETH Zürich statt. Dieses wurde erst 1864 fertiggestellt und bezogen. Die Hochschule war auf vier, später fünf Gebäude in der Altstadt Zürichs verteilt und litt unter sehr beengten Verhältnissen.

 

Literatur:

Peter Gyr. Josef Wolfgang von Deschwanden(1819-1866) : erster Direktor des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich. Zürich 1981.

Wilhelm Oechsli. Geschichte der Gründung des eidgenössischen Polytechnikums mit einer Übersicht seiner Entwicklung 1855-1905: Zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Anstalt verfasst im Auftrage des Schweizerischen Schulrates. Frauenfeld 1905.

 

The post Beginn mit Brummschädel – Erster Schultag 1855 appeared first on ETHeritage.

Frau Bibliotheksdirektor, Einstein und Dürrenmatt

$
0
0

Wie übersteht man lange Gedenkanlässe? Ein praktisches Beispiel zum vergangenen 25. Todestag und kommenden 95. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt (5. Januar 1921 – 14. Dezember 1990).

Hs_304-1286-5_S20-Teil72

Aus: Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein. Vortrag, ETH Zürich, Febr. 1979, 1. Fassung, Arbeitsexemplar, Januar 1979, Seite 20 (ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv ETHZ, Hs 304:1286-5)

Alle paar Jahre, und zwar in kurzer Folge, wird irgendein Einstein Jubiläum gefeiert. Damit wird nicht nur die Erinnerung an den Geehrten und seine Leistungen wachgehalten. Vielmehr fällt der Glanz des Genies auch ein wenig auf die vielleicht genauso genialen, aber nicht annähernd so berühmten Festredner und seltenen Festrednerinnen. Die Institution, welche die jeweilige Feier ausrichtet, beansprucht entweder eigene Verdienste an den Leistungen des Jubilars oder will mindestens die Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Der ETH Zürich gelang 1979 zum 100. Geburtstag von Albert Einstein sogar ein werbetechnisches Bravourstück. Sie lockte nicht nur ein allgemeines Publikum mit einer Ausstellung in die sonst nicht öffentlich zugängliche Kuppel des ETH Hauptgebäudes. Sie vermochte auch Friedrich Dürrenmatt als Redner für die Vortragsreihe der Gedenktagung zu gewinnen. Der seit der Uraufführung des Stückes „Die Physiker“ 1962 im deutschsprachigen Europa bestens bekannte Dramatiker sprach also über den weltweit berühmten Wissenschaftler.

Proben zu "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt am Schauspielh

Friedrich Dürrenmatt bei den Proben zu “Die Physiker” am Schauspielhaus Zürich, 1962 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_L11-0024-0330 / CC BY-SA 4.0)

Die Feier, die sonst nur Fachleute aus der Physik und verwandten Wissenschaften angezogen hätte, geriet so zum gesellschaftlichen Ereignis. „Ganz Zürich“, das heisst, wer eine Einladung erhalten hatte, wer sich zur kulturellen Elite zählte, wer gerüchteweise vom Zusammentreffen zweier grosser Namen vernommen hatte und neugierig den noch Lebenden der beiden leibhaftig einmal aus der Nähe sehen wollte, suchte einen Sitzplatz zu ergattern, drängte in das Auditorium Maximum der ETH und in die angrenzenden Hörsäle, in welche die Veranstaltung auf Grossleinwand übertragen wurde.

Natürlich war der Auftritt Dürrenmatts erst am Ende der Redenreihe als Schluss- und Höhepunkt vorgesehen vor der Mittagspause, nach welcher dann noch der ETH-Präsident die Ausstellung eröffnen würde. Am Samstag 24. Februar 1979 um 9.30 Uhr wurden die Anwesenden zunächst vom Rektor der nachbarlichen Universität begrüsst, die nebst der Physikalischen Gesellschaft Zürich und der Naturforschenden Gesellschaft Zürich den Gedenkanlass zusammen mit der ETH organisiert hatte. Dann folgten drei dreissig- bis vierzigminütige Vorträge von Physikprofessoren der ETH, der Universität Zürich und der Princeton University USA. Nach einer halbstündigen Kaffeepause ergriff für eine weitere halbe Stunde nochmals ein Physikprofessor der ETH das Wort. Und dann, endlich, erschien der Star des Anlasses.

Portr_15578 - 72mini

Portr_15569-010 - 72mini

Portr_15569-012 - 72mini

Friedrich Dürrenmatt während seines Vortrags an der ETH Einsteinfeier, 24. Februar 1979 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, ETH: Einsteinfeier, von oben nach unten: Portr_15578, Portr_15569-010, Portr_15569-012)

Wer aber nun zum Abschluss des langen Vormittags mit wirrem Kopf und knurrendem Magen als Einstimmung auf das tapfer erdauerte Mittagsmahl wohlklingende Erbauung aus dem Munde des Wortkünstlers erwartet hatte, bekam eine vertrackte religionsphilosophische Schachphantasie zu hören. Nicht weniger anspruchsvoll als die vorangegangenen Vorträge der Physiker.

Im andächtig oder höflich ausharrenden Publikum sass auch Barbro Bylund. Als ausgebildete Bibliothekarin und Gattin des Germanisten Paul Scherrer, ehemaliger Direktor der ETH-Bibliothek und der Zentralbibliothek Zürich, war sie gewiss nicht literaturfern. Doch zur vorgerückten Mittagsstunde interessierte sie nicht die akustische Darbietung des Literaten, sondern dessen gutgenährte optische Erscheinung. Sie zückte den Kugelschreiber und verkürzte sich die Zeit mit dem Zeichnen eines Porträts auf der letzten Seite der Einladungsfaltkarte zum Gedenkanlass.

Ihr Mann übergab das Werk später der ETH-Bibliothek, der früheren Stätte seines beruflichen Wirkens. Der Leiter der Handschriftenabteilung beschriftete es mit Bleistift: „Zeichnung von Frau Bibliotheksdirektor Scherrer, während Dürrenmatts Einstein-Vortrag“.

HsProv_Scherrer_0001 - 72

“Zeichnung von Frau Bibliotheksdirektor Scherrer während Dürrenmatts Einstein Vortrag”. Barbro Scherrer-Bylund: Friedrich Dürrenmatt. Kugelschreiber, Bleistift auf Papier. 24. Februar 1979. Letzte Seite der Einladungsfaltkarte zur Gedenkfeier anlässlich des 100. Geburtstags von Albert Einstein (ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv ETHZ, Hs prov Scherrer) 

Die Zeichnung von Barbro Scherrer-Bylund befindet sich heute im Besitz des Hochschularchivs der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek, ebenso die Manuskripte und Typoskripte der Vorträge, darunter das handkorrigierte Arbeitsexemplar von Dürrenmatt.

Die Vorträge der Gedenktagung wurden publiziert in: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Jahrgang 124, Heft 1, März 1979. Dürrenmatts Vortrag erschien danach auch in verschiedenen Dürrenmatt Editionen beim Diogenes Verlag, Zürich.

The post Frau Bibliotheksdirektor, Einstein und Dürrenmatt appeared first on ETHeritage.

Die Kriminalfalle – Friedrich Glauser und Carl Gustav Jung

$
0
0

„Was ist das denn für ein Experiment?“ wollte O’Key wissen. „Es ist“, sagte Madge, ihr Tonfall wurde ganz wissenschaftlich, sie war vollkommen die erste Assistentin einer psychiatrischen Klinik, es ist das Jungsche Assoziationsexperiment…“

Hs_1055-712-1_S1 -72

Ausschnitt einer gedruckten Liste mit Reizwörtern des Assoziationsexperiments, Version 1908 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, C.G. Jung, Hs 1955:712/1). Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Stiftung für die Werke von C.G. Jung ©.

„… Wir haben für die gewöhnlichen Fälle ein vorgedrucktes Exemplar, hier“, und Fräulein Dr. Lemoyne zeigte einen Bogen, der mit vier Wörterkolonnen bedruckt war. „Wir lesen dem Patienten die Worte einzeln vor und verlangen von ihm, er möge das erste ihm einfallende Wort auf das Reizwort sagen. Die Zeit, die zwischen der Nennung des Reizwortes und seiner Antwort liegt, kontrollieren wir mit der Stoppuhr und finden dann gewisse Wörter heraus, die eine längere Reaktionszeit bedingen als andere. Die Wörter mit der längeren Reaktionszeit können uns dann wichtige Aufschlüsse geben über das verborgene Innenleben des Patienten.“

Diese Beschreibung ist zu lesen in „Der Tee der drei alten Damen“, dem ersten Kriminalroman von Friedrich Glauser. Der Autor war zeitlebens immer wieder Insasse von Irrenhäusern gewesen und kannte sich aus mit den gängigen psychologischen Praktiken.

Der Romanpatient, Zeuge eines Mordes, liefert dem Verhörduo weiterführende Hinweise während der Reizwörterbefragung, wird nach einem Fluchtversuch mit einer Betäubungsspritze ruhig gestellt und stirbt. Der im Genf der 1920er Jahre angesiedelte Roman dreht sich um wirtschaftspolitische Spionage, indische Ölquellen, einen allseits verehrten Psychologieprofessor der Universität, Geheimzirkel mit okkulten Ritualen und alte Zauberbücher mit Hexenrezepten.

 

Die Falle, die Fälle, der Fall

Das beschriebene Experiment hatte Carl Gustav Jung als junger Arzt am Burghölzli, der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, auf der Grundlage von bereits bestehenden assoziationspsychologischen Studien entwickelt. In verschiedenen Publikationen wies er auf die kriminalistischen Möglichkeiten der Methode hin, mit der er selber Diebstähle aufgeklärt hatte. Dafür wurden die Standardreizwörter mit solchen ergänzt, die den Untersuchungsgegenstand betrafen. Den Befragten wurde also eine psychologische Falle gestellt. Tatbestandsdiagnostik hiess das Verfahren in der Gerichtspraxis.

1934 wurde Jung in einem Zürcher Strafgerichtsverfahren um Mithilfe bei der Aufklärung eines möglichen Mordfalles ersucht. Ein Mord war jedoch ein wesentlich heikleres Geschäft als ein paar einfache Gelegenheitsdiebstähle. Zwar war Jung, wie er erst Jahrzehnte später in seinen Erinnerungen preisgab, schon während seiner Zeit am Burghölzli beim Assoziationsexperiment mit einer Patientin auf einen mutmasslichen Mord gestossen. Aber er hatte damals zugunsten der Heilungschance darauf verzichtet, die Polizei einzuschalten.

Nun bot sich ihm die Möglichkeit, die Assoziationsmethode erneut und diesmal offiziell an einer kriminalistischen Extremsituation zu erproben. Allerdings riskierte er mit einer keineswegs auszuschliessenden Fehldiagnose sein Ansehen. Eine weitere Schwierigkeit lag in der Verfahrensordnung. Diese schrieb eine strikte Trennung zwischen externer Einschätzung und richterlichem Urteil vor, die Jung peinlichst einzuhalten gedachte. Er hatte nicht vor, irgendeine Verantwortung für die Folgen seines Beitrags zum weiteren Prozessgeschehen zu übernehmen. Der Spagat zwischen Beurteilen und Verurteilen, Zelebrieren wissenschaftlicher Methodik und Selbstschutz mündete nach dem Test mit dem Angeklagten in einen entsprechend umständlich formulierten Befund:

Hs_1055-104-S13 - 72

Aus: C.G. Jung, An das Präsidium des Schwurgerichtes des Kantons Zürich, Gutachten (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, C.G. Jung, Hs 1055:104). Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Stiftung für die Werke von C.G. Jung ©. Publikation des vollständigen Gutachtens in „Tatbestandsdiagnostik“, siehe Hinweise.

„Zusammenfassend und antwortend auf die eingangs gestellte Frage muss also festgestellt werden, dass die durch das Experiment umschriebene psychologische Situation des Exploranden in keinerlei Weise derjenigen entspricht, die man bei einem sich als unschuldig bewussten Menschen erfahrungsgemäss erwarten könnte. Die Anzeichen eines schuldhaften Bewusstseins hingegen zu beurteilen, muss ich dem richterlichen Ermessen anheimstellen.“

Das Gericht sprach den Angeklagten schuldig. Wegen grober Verfahrensmängel – entlastende Umstände und Zeugenaussagen waren von den Untersuchungsbehörden systematisch missachtet worden – wurde der Verurteilte jedoch später in einem Revisionsprozess freigesprochen.

 

Realität und Roman: Ein gemeinsamer Bekannter

Der Beschuldigte war von Wladimir Rosenbaum verteidigt worden, einem stadtbekannten Anwalt, der das moderne Kulturleben Zürichs förderte und in Jungs Psychologischem Club verkehrte. Rosenbaum und Jung hatten sich über den Gerichtsfall ausgetauscht.

1937 geriet Rosenbaum selber in Untersuchungshaft wegen verbotener Unterstützung des antifaschistischen Widerstandes in Spanien. Jung war hinterher beeindruckt, wie der Jurist die psychische Belastung des Gefängnisaufenthalts gemeistert hatte. Doch als Rosenbaum, ermuntert von Mitgliedern, sich wieder im Psychologischen Club sehen liess, empfand dies Jung als Taktlosigkeit und distanzierte sich von ihm. Untersuchungshäftlinge, ob mögliche Mörder oder verdächtige Anwälte, mochten zwar interessante Studienobjekte sein, auf gesellschaftlichem Parkett wollte der Psychiater aber nichts mit ihnen zu tun haben. Vielleicht fürchtete er um den Ruf seines Psychologischen Clubs, wenn sich da im Kreis unbescholtener Gäste jemand von zweifelhafter Ehrbarkeit bewegte.

Wladimir Rosenbaum war einst auch Schulkamerad von Friedrich Glauser gewesen. Später unterstützte er den Schriftsteller immer wieder juristisch und finanziell. Dieser setzte dem verlässlichen Gönner im „Tee“ ein literarisches Denkmal in der Gestalt des Anwaltes Isaak Rosène. Im Roman ist ebenfalls von Taktgefühl die Rede, will heissen vom freiwilligen Verschwinden des entlarvten Übeltäters durch Selbsttötung, womit er seiner Umgebung die Verlegenheit erspart, ihm unter veränderten Umständen angemessen begegnen zu müssen:

„Aepfuuh“, sagte Herr Staatsrat Martinet. „Die Sache ist noch besser verlaufen, als ich zu hoffen gewagt habe. Manche Leute haben, auch wenn sie im Hauptberuf Mörder sind, doch noch Taktgefühl. [Er] hat sich auf eine sehr feinfühlige Art aus dem Staube gemacht.“

Jung und der „Tee“

920522_Umschlag - Kopie

Friedrich Glauser. Der Tee der drei alten Damen. Eingebundener Schutzumschlag der Bucherstausgabe von 1941. Exemplar ETH-Bibliothek, Signatur: 920522.

Glauser fand zu Lebzeiten (4. Februar 1896 – 8. Dezember 1938) keinen Verleger für seinen Kriminalerstling. Nach seinem Tod publizierte die Zürcher Illustrierte das Werk als Fortsetzungsgeschichte von Juni bis Oktober 1939. Die erste Buchausgabe erschien 1941.

Hatte Jung die Kriminalgeschichte gelesen? In einem Katalog seiner Privatbibliothek von 1967 ist sie nicht aufgeführt. Doch war ihm die Existenz des Werks wahrscheinlich bekannt. Jung lehrte seit 1935 an der ETH Psychologie. Mütter, Gattinnen, Schwestern, Töchter von ETH-Professoren waren Mitglieder in dem von ihm gegründeten Psychologischen Club. Professoren liessen sich von ihm analysieren und therapieren. Ausserhalb der ETH war er umgeben von Psychologinnen, Psychologen und von seiner Familie. Irgendwer aus der zahlreichen Gefolgschaft und Verwandtschaft wird Glausers „Tee“ gelesen und Jung über den Inhalt informiert haben.

Mit einem Dutzend weiterer Kriminalromane, darunter solche von Agatha Christie und Arthur Connan Doyle, gelangte 1958 ein Exemplar der Bucherstausgabe in die ETH-Bibliothek, gemäss Eingangsbuch als „Geschenk der Schulleitung“. Es trägt den handschriftlichen Besitzvermerk von Hans Bosshardt, dem langjährigen Generalsekretär des Schweizerischen Schulrates, dem Führungsgremium der ETH. Mindestens Bosshardt hätte also dem Hauspsychologen der ETH den „Tee“ brühwarm einschenken können.

920522_Bosshardt - 72

Besitzvermerk von Hans Bosshardt, Generalsekretär des Schweizerischen Schulrates.

Angenommen, Jung kannte das Werk aus eigener Lektüre oder vom Hörensagen: Wie reagierte er auf die positive literarische Darstellung des im wirklichen Leben inzwischen beruflich ruinierten und gesellschaftlich geächteten Rosenbaum? Wie auf den kritischen Blick des Krimiautors auf das esoterisch psychologische Milieu und die gehobene Gesellschaft? Störte sich der standesbewusste Jung daran, dass seine Assoziationsmethode in die Niederungen der „Schundliteratur“ – so die zeitgenössische Einreihung der Kriminalromane in die schriftlichen Gattungen – abgesunken war?  Oder fühlte er sich im Gegenteil gar geschmeichelt und freute sich über die Breitenwirkung? Vielleicht hielt er es mit Friedrich Glauser, der im „Tee“ der Ärztin, die das Assoziationsexperiment durchführt, die Worte in den Mund legt:

„Spotten Sie nicht über Kriminalromane! […] sie sind heutzutage das einzige Mittel, vernünftige Ideen zu popularisieren.“

Hinweise

– Den Hinweis auf Jungs Assoziationsmethode in Glausers Roman verdanke ich Johannes Fehr (1957-2014), Titularprofessor für Sprachtheorie der Universität Zürich und stellvertretender Leiter des Collegium Helveticum der ETH Zürich.

– Friedrich Glauser, Der Tee der drei alten Damen, Zürich 1941. Zitate S. 136, 141, 267f.

– C. G. Jung, Zur psychologischen Tatbestandsdiagnostik. Das Tatbestandsexperiment im Schwurgerichtsprozess Näf, in: Archiv für Kriminologie, Band 100, Berlin 1937, S. 123-130. Neuedition in: C. G. Jung – Gesammelte Werke, Olten 1991 (3. Ed.), Band 2, S. 636-638.

– Erinnerungen, Träume , Gedanken von C.G. Jung. Hg. Aniela Jaffé, Olten/Freiburg im Breisgau 1987.

– Peter Kamber, Geschichte zweier Leben: Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, Zürich 1990.

– Der Nachlass von Friedrich Glauser liegt im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.

– Das Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek betreut das C.G. Jung-Arbeitsarchiv, den wissenschaftlichen Nachlass des Psychiaters und Psychologen.

The post Die Kriminalfalle – Friedrich Glauser und Carl Gustav Jung appeared first on ETHeritage.

Freigestellter Freigeist – Hans Bernoulli zum 140. Geburtstag

$
0
0

Eine böse Weihnachtsüberraschung steckte am 24. Dezember 1938 im Briefkasten von Hans Bernoulli, Titularprofessor für Städtebau an der ETH. Der Präsident des Schweizerischen Schulrates schrieb ihm, dass sein Lehrauftrag mit Schluss des Wintersemesters beendet sei und nicht erneuert werde. Damit hatte Bernoulli nicht gerechnet. Dennoch traf ihn der Blitz nicht aus heiterem Himmel, das Gewitter hatte sich seit langem zusammengebraut und mit Donnergrollen angekündigt.

 

Bernoulli, Hans (1876-1959)

Der Provokateur: Hans Bernoulli, 1928 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_00029)

 

Professor ohne Prüfung

Hans Bernoulli (17. 2. 1876 – 12. 9. 1959) trug den Namen eines angesehenen Basler Geschlechts, war Nachkomme berühmter Gelehrter, Sohn eines glücklosen Notariatsangestellten und einer lebensfrohen Mutter, die ihren fünf Kindern das Zeichnen beibrachte. Über seine Schul-, Lehr- und Wanderjahre schrieb Bernoulli am 75. Geburtstag:

„Um Examina habe ich mich gedrückt zeitlebens (einzig der Rekrutenprüfung konnte ich nicht entgehen).“ (Freies Volk, 17. Februar 1946)

 

NurNamen

 

1912 wurde Bernoulli Chefarchitekt der Baugesellschaft Basel und ersuchte gleichzeitig die ETH um Lehrerlaubnis. Die übliche Habilitationsschrift konnte er nicht vorweisen. Stattdessen vermochte er die Professoren der Architekturabteilung in Gesprächen von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Mit deren Empfehlung und aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit wurde er auf Antrag des Schweizerischen Schulrats vom Schweizerische Bundesrat per Sommersemester 1913 zum Privatdozenten der ETH für Städtebau ernannt.

 

ProfNamen

 

Ab 1918 führte Bernoulli wieder wie in früheren Jahren ein eigenes Architekturbüro. Da erreichte ihn 1919 der Ruf auf eine Professur an der Technischen Hochschule Hannover. Ein verlockendes Angebot. Aber sein neues Geschäft schon wieder aufzugeben, kam ihm ungelegen. Anderseits hätte er, der Spross ohne akademische Abschlüsse am jahrhundertealten Gelehrtenstammbaum, sich nur zu gerne dennoch hochachtungsvoll mit „Herr Professor“ ansprechen lassen und an gesellschaftlicher Statur dazugewonnen.

Wiederum half ein Gespräch. Am 11. Juli 1919 verlieh ihm der Schweizerische Bundesrat auf Antrag der des Schweizerischen Schulrates für seine Verdienste um die ETH den Titel eines Professors. Bernoulli bedankte sich am 13. August 1919 artig beim Schulratspräsidenten und versprach:

„Ich werde stets bemüht sein, der Technischen Hochschule mit meinem besten Wissen und Können zu dienen.“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3, No.1042)

Fortan unterschieb der Architekt mit „Prof. Hans Bernoulli“ bis seine Druckerei ihm neues Briefpapier mit gedrucktem Professorentitel im Briefkopf geliefert hatte.

 

Briefkopf

 

Ohne Furcht, doch mit viel Tadel: Der Freiwirtschaftsapostel

Anfangs der 1920er Jahre steckte die Schweiz in einer Wirtschaftskrise. Bernoulli las das Grundlagenwerk der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell: „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, erschienen erstmals 1916. Gemäss der Lehre war der Boden in staatlichen Besitz zu überführen, um ihn der Spekulation zu entziehen. Die staatliche Geldpolitik sollte auf stabile Löhne und stabile Kaufkraft ausgerichtet sein, um Krisen zu verhindern.

Bernoulli war sofort Feuer und Flamme, gründete mit Gleichgesinnten den Schweizer Freiland-Freigeld-Bund, warb an Vortragsreisen durch die ganze Schweiz für freiwirtschaftliches Bodenrecht, wetterte gegen die Währungspolitik von Bund und Nationalbank und veröffentlichte in der „Freiwirtschaftlichen Zeitung“ nebst kritischen Artikeln auch wöchentlich satirische Gedichte unter dem Pseudonym Emanuel Kupferblech.

 

FFF-Kopf

 

Im Mai 1933 – die Schweiz steckte erneut in einer Wirtschaftskrise, diesmal der weltweiten sogenannten grossen der 1930er Jahre – erhielt der Schulratspräsident zwei Beschwerden.

Die eine vom 20. Mai kam von der Gesellschaft ehemaliger Polytechniker G.E.P. (heute Alumni). Titularprofessor Bernoulli würde im Land herumreisen und Vorträge halten gegen den Lohnabbau in Verbindung mit seiner Freigeldtheorie:

„Dabei wurde es als stossend und dem Ansehen der ETH abträglich empfunden, dass Arch. Bernoulli in den Ankündigungen seiner Vorträge als ‚Professor an der ETH‘ bezeichnet werde, wodurch ihm in den Augen des Publikums natürlich ein entsprechendes Ansehen und Gewicht verschafft werden soll, da der Fernerstehende vermuten muss, er werde durch einen Professor der Volkswirtschaft aufgeklärt, was eben irreführend ist.“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3, No. 1414/011)

Der Schulratspräsident legte daraufhin Bernoulli nahe, bei seinen freiwirtschaftlichen Vorträgen auf den Professorentitel und den Hinweis auf die ETH zu verzichten, um Missverständnisse zu vermeiden.

Die zweite Beschwerde vom 31. Mai stammte vom Verwaltungsratsdelegierten der Schuhfabrik C.F. Bally AG, gleichzeitig Mitglied der aargauischen Handelskammer. Die Handelskammer hatte sich mit einem Aufruf der Ortsgruppe Aarau des Schweizer Freiwirtschaftsbundes zu einer „öffentlichen Protestversammlung gegen die Lohn- und Abbau-Politik“ befasst, auf dem als Referent „Prof. H. Bernoulli von der ETH“ figurierte. Der Bally-Delegierte zeigte sich darüber als ehemaliger Schüler der ETH „erstaunt und beschämt“, fand „es ganz unentschuldbar, wenn sich ein Professor des Polytechnikums mit einer solchen Propaganda verbindet“ und wunderte sich „dass ihm dies nicht von der ihm vorgesetzten Instanz verboten wird“. (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, SR3, No. 1526/223.0).

Der Delegierte erhielt umgehend die Antwort, dass Bernoulli bereits entsprechend gerügt worden sei.

An der Schulratssitzung vom 22. Juli 1933 wurde dann erwogen, Bernoulli mit dem Entzug der Lehrerlaubnis zu drohen oder stattdessen „später ohne besondere Vorankündigung an Herrn Bernoulli diesen Lehrauftrag einfach nicht mehr zu erteilen“. Vorerst wurde Bernoulli jedoch nur in einem weiteren Schreiben, diesmal im Namen des ganzen Schulrates, angewiesen, weder den Professorentitel noch die ETH mit seinen Auftritten für die Freiwirtschaft in Verbindung zu bringen.

Bernoulli verteidigte sich am 23. Juli 1933:

„In meinen Referaten habe ich nie den Anschein zu erwecken versucht, also ob ich Professor der Volkswirtschaft wäre. Die Absicht einer derartigen Irreführung liegt mir durchaus fern: mit der freiwirtschaftlichen Wirtschaftsauffassung stelle ich mich ja gerade in Gegensatz zu den Fachprofessoren der Volkswirtschaft.

Das Postulat es habe die Entwicklung der Währungsverfassung mit der Entwicklung der Technik Schritt zu halten, scheint mir so natürlich, dass ich niemals auf die Idee kam, die Vertretung dieses Postulates durch einen Professor der E.T.H. könnte dem Ansehen des Instituts abträglich sein.“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, SR3 1933, No. 1541/223.0).

Im November 1933 schickte Bernoulli dem Schulratspräsidenten eine Nummer der Freiwirtschaftlichen Zeitung, in welcher er eine Publikation gegen die Freiwirtschaft von Eugen Böhler, Professor für Volkswirtschaft an der ETH, zerpflückte. Böhler seinerseits hatte den Schulratspräsidenten darüber informiert, dass er für den Vorsitz eines schweizerischen Komitees gegen die Freiwirtschaft angefragt worden sei. Weiteres zur Fehde der beiden wurde in der Schulleitung offiziell nicht erörtert.

 

C’est le ton qui fait la musique – Der Ton macht die Musik

Das nächste Jahr verstrich ohne schulrätlich protokollierte Ereignisse zu Bernoulli, abgesehen vom weiterhin erteilten Lehrauftrag für Städtebau.

Doch dann schickte ein empörter Genfer Architekt dem Schulratspräsidenten das Programm einer Vortragsreihe von Bernoulli, organisiert von der Université Ouvrière de Genève, mit dem Titel „La téchnique de la lutte finale contre le capitalisme“. Dazu meinte der Absender:

„Je crois que tout commentaîre l’affaiblirait, …. Il est possible que dans les idées de Mr.B. il y ait quelque chose d’intéressant mais la forme donnée à son résumé est vraiment par trop démagogique & indigne d’un professeur à l’E.P.F., que je croyais au surplus enseigner l’architecture et non économie politique! »

 

1935_257_1

 

Ausschnitt aus Einladung und Programm der Vortragsreihe : La technique de la lutte finale contre le capitalisme, 7.1.1935 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, SR3 1935, 223.0/257 Ad. 1)

Ob der Empfänger die Anklänge im Programmtitel an die Arbeiterinternationale „Völker höret die Signale, auf zum letzten Gefecht“ wahrnahm oder nicht, sei dahingestellt. Bernoullis rhetorischer Endkampf dürfte den Schulratspräsidenten so oder so nicht gefreut haben. Der Agitator zeichnete zwar befehlsgemäss nur mit Architekt, nicht mit Professor. Aber das hatte offensichtlich nichts genützt. Er wurde weiterhin als Angehöriger der ETH wahrgenommen, der zudem in einem fremden Fachgebiet wilderte.

An der Schulratssitzung vom 16. Februar 1935 wurde daher wieder einmal das Engagements des Titularprofessors für die Freiwirtschaft diskutiert. Der Präsident hätte Bernoulli gerne das Ultimatum gestellt, sich für die Lehrtätigkeit an der ETH oder die Freiwirtschaft zu entscheiden. Aber die anderen Schulratsmitglieder waren anderer Meinung:

„In der Diskussion wird übereinstimmend betont, dass zwischen der Lehrtätigkeit an der E.T.H. und der privaten Betätigung unterschieden werden müsse. Solange man Bernoulli als Lehrer nichts vorwerfen könne, sei die Enthebung vom Lehrauftrag nicht gut möglich. Man würde ihn sonst zum Märtyrer stempeln, als welcher er sich umso hemmungsloser der Agitation hingeben und den Professortitel umso ungenierter gebrauchen würde. etwas anderes wäre, wenn er persönlich gegen Mitglieder unsrer obersten Bundesbehörde aggressiv würde oder wenn er seine Freigeldtheorie auch in seinem Unterrichte zum Ausdruck brächte. Dann wäre unbedingt gegen ihn einzuschreiten.“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, SR3 1935, 16.2.1935, Traktandum 7)

Der Schulratspräsident erhielt den Auftrag, mit Bernoulli „ernstlich zu sprechen“ und ihn darauf hinzuweisen, dass er „in seinem Unterricht sich jeglichen Hinweises auf die Freigeldtheorie enthalte“.

 

1935_Irrgarten

Publikation von 1935. Geschenk des Autors an die ETH-Bibliothek 1955.

Bernoulli, der von dieser Sitzung noch nichts wusste, teilte dem Schulratspräsidenten am 21. Februar 1935 mit, Freunde hätten ihn ermuntert für die Grossratswahlen in Basel zu kandidieren. Er ersuchte um die Erlaubnis, für den Wahlkampf den Professorentitel führen zu dürfen, da es sich ja um eine politische und nicht um eine wirtschaftliche Betätigung handle. Der Schulratspräsident liess sich nicht für dumm verkaufen und lehnte das Ansinnen ab, da Bernoulli voraussichtlich von freiwirtschaftlicher Seite aufgestellt werde, „derart, dass Ihre Kandidatur doch wohl in erster Linie als Kundgebung in wirtschaftlichen Fragen anzusehen ist.“ So war es auch. Bernoulli wurde schliesslich trotz fehlendem Professorentitel gewählt und sass 1935-1938 als Vertreter des Freiwirtschaftsbundes im Basler Parlament.

 

Unter Beobachtung

Dann wurde ruchbar, dass Bernoulli wegen Wahlbetrugs verurteilt worden war. Der Schulratspräsident witterte schon die Chance, den Quälgeist mit einem gutem Grund endlich loszuwerden. Diesmal würden die Beschützer des lästigen Störenfrieds im Schulrats ihn nicht mit taktischen Ausflüchten oder gar dem Argument, man wolle den hervorragenden Architekturlehrer nicht verlieren, ausbremsen können.

Er liess von der Staatsanwaltschaft Basel die Akten kommen. Doch leider erwies sich die Angelegenheit als Bagatelldelikt, das eine Entlassung nicht rechtfertigte. Bernoulli hatte sich selber die Stimme für die Wahl in den Bankrat der Basler Kantonalbank gegeben, was der Wahlmodus offenbar verbot. Weil er ein politischer Neuling sei, liess es das Gericht bei einer Busse bewenden.

Der Präsident berichtete in der Schulratssitzung vom 27. September 1935 über das magere Ergebnis. Das war allerdings kein Grund für ihn, jetzt locker zu lassen:

„Neben diesem Delikt fällt jedoch schwerwiegend ins Gewicht die ständige, auf tiefstem Niveau stehende Hetze von Prof. Bernoulli gegen unsere Behörden, insbesondere gegen den Bundesrat und die Leitung der Nationalbank.

Ich möchte beantragen, den Prof. Bernoulli für das Wintersemester 1935/36 erteilten Lehrauftrag nicht rückgängig zu machen. Hingegen sollte versucht werden, festzustellen, ob in den Vorlesungen und Uebungen von Prof. Bernoulli irgendwelche Anspielungen fallen, die mit einem wissenschaftlichen Unterricht nicht zu vereinbaren sind. Auf Grund der gemachten Feststellungen könnten wir alsdann im Frühjahr 1936 nochmals auf die Angelegenheit zurückkommen.“

 

Bäume - Kopie

 

Dies wurde genehmigt. Wie der Präsident später bekanntgab, erteilte er dem Vorstand für Architektur den Auftrag, Bernoulli während dessen Vorlesungen zu überwachen oder durch einen Assistenten überwachen zu lassen. Für die peinliche Aufgabe hatte der Vorstand aber nicht allzu viel Zeit übrig. Auch Assistenten hielt man sich für produktive Arbeit, nicht um Lehrkräfte zu bespitzeln und anzuschwärzen. Ohnehin gehörten wirtschaftliche sowie bodenrechtliche Fragen nun mal zur praktischen Ausbildung von Architekten, sie würden nach dem Studium nicht nur Luftschlösser bauen können.

 

Städtebau - Kopie

aus: Rolf Meyer-von Gonzenbach, Vorlesungsnachschrift aus der Studienzeit: Hans Bernoulli, Städtebau, Sommersemester 1932.

Dem Abteilungsvorstand war bei seinen Stichproben jedenfalls nichts aufgefallen, das dem Präsidenten zu melden er für angebracht gehalten hätte.

 

Geplatzter Kragen, gerissener Geduldsfaden: Der Gegenangriff

Drei Jahre später lag auf dem Pult des Schulratspräsidenten ein fünfseitiges Schreiben der Schweizerischen Nationalbank, vom 24. November 1938, dessen Kopie auch an den Schweizerischen Bundesrat, und zwar an den Chef des Eidgenössischen Departement des Inneren, ging. Darin war und ist zu lesen:

 

Portr_8444 - Kopie

Der Provozierte: Gottlieb Bachmann, um 1939, Direktionspräsident der Schweizerischen Nationalbank (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_8444)

„Seit einer Reihe von Jahren sieht sich die Leitung der Schweizerischen Nationalbank und insbesondere der Präsident des Direktoriums einer scharfen Kritik seitens des Schweizerischen Freiwirtschaftsbundes ausgesetzt, weil die Bank sich bis jetzt widersetzt hat, auf die ihres Erachtens auf fundamentalen Irrtümern beruhenden Postulate der Freiwirtschaftler einzutreten und die Freiwirtschaftslehre zur Richtschnur für die Notenbank zu nehmen. […]

Die Nationalbank ist sich wohl bewusst, dass ihre im Dienste der Oeffentlichkeit ausgeübte Tätigkeit nicht immer die einhellige Billigkeit auch des letzten Bürgers oder aller Interessengruppen finden kann, und es fällt ihr nicht ein, irgend jemandem das Recht zur Kritik an ihrer Tätigkeit absprechen zu wollen. Solange sich daher die Freiwirtschafter und ihre Presse einer sachlichen Kritik befleissen, ist dagegen durchaus nichts einzuwenden, und es sind unsere Bankorgane gegen eine solche keineswegs überempfindlich.“

 

Heraus

Freiwirtschaftliche Zeitung, 27. August 1938

SchweizSchwanz

„Von einer solchen sachlichen Kritik sind aber wohl zu unterscheiden die mehr oder weniger offenen, in gehässiger und demagogischer, um nicht zu sagen perfider Weise erfolgenden Angriffe, wie sie schon seit geraumer Zeit ganz besonders gegen den Präsidenten unseres Direktoriums gerichtet werden. Diese Angriffe umfassen ein ganzes Register von Verdächtigungen und Verächtlichmachungen […] und haben sogar mehr als einmal schon mehr oder weniger verdeckte Aufforderungen zur gewaltsamen Beseitigung des vom Bundesrat gewählten Direktoriumspräsidenten aufgefordert.“

Das Bankinstitut habe sich mehrmals ein rechtliches Vorgehen überlegt, der Erfolg erschien aber jedesmal zweifelhaft,

„da eine gewisse Grenze, bei der die Strafbarkeit unzweifelhaft gegeben wäre, bisher nicht überschritten worden ist. Die Leute lassen also in dieser Beziehung eine gewisse Vorsicht walten, um dann umso ungenierter innerhalb der so gezogenen Grenze weiterzuwühlen, auf eine Weise also, gegen die der Angegriffene sich nicht erwehren kann und die das Vorgehen der Angreifer als ein besonders perfides erscheinen lässt. […]“

 

rückfall

Freiwirtschaftliche Zeitung, 13. August 1938

„In der vordersten Reihe dieser Angreifer figuriert nun der an der Eidg. Technischen Hochschule als Professor tätige und in dieser Eigenschaft von Schweizerischen Schulrat gewählte Professor Bernoulli, und wir stehen somit vor der weiten Kreisen unbegreiflichen Tatsache, dass ein Lehrer unserer Eidg. Technischen Hochschule, dem im weiteren Sinne wohl die Eigenschaft eines Bundesbeamten zukommt, einen andern im Dienste der Oeffentlichkeit tätigen, vom Bundesrat gewählten Funktionär und das hinter ihm stehende, auf das allgemeine Vertrauen angewiesene Noteninstitut, in perfider Weise andauernd bloss stellt und in seinem Ansehen herabzuwürdigen versucht, und das noch in einer Weise, die es nicht ermöglicht, diesen Herrn vor dem Richter zur Rechenschaft zu ziehen.“

Beigelegt waren ein paar Nummern der Freiwirtschaftlichen Zeitung mit Gedichten des Emanuel Kupferblech und eine Nummer der freiwirtschaftlichen Monatsschrift Jugend am Pflug mit dem Gedicht Auf dieser Bank von Stein, „in welchem Elaborat man sogar eine versteckte Aufforderung zum Mord erblicken könnte.“

 

1938_Stein

Jugend am Pflug. Jg.5, No. 9, November 1938, S. 69

Im Gedicht rät Emanuel Kupferblech dem mythischen Schweizer Freiheitshelden Wilhelm Tell, der aus dem Hinterhalt den tyrannischen Landvogt Gessler mit einem Pfeil aus der Armbrust erschoss, ein zeitgenössisches Ziel aufs Korn zu nehmen:

„[…]

Er war, wenn man es richtig nennt,

Zwar primitiv, doch konsequent:

‚Wer unser Ländchen drangsaliert!‘

So dacht er, ‚der wird fortspediert‘.

[…]

Ich sagt es oben schon: sein Gout

War etwas sehr geradezu –

Er läg an einem Bauzaunspalt

Beim Bürkliplatz im Hinterhalt.“

Dieses Gedicht war schon 1930 in der Freiwirtschaftlichen Zeitung erschienen, ein zweites Mal 1932 in Hans Bernoullis Gedichtband Der Schandfleck und andere Verse über die Währungsverbrechen unserer Zeit. Vermutlich waren die früheren Ausgaben der Aufmerksamkeit der Nationalbank nicht entgangen. Der dritte Abdruck nebst allen anderen Gedichten, Artikeln und Veranstaltungen war aber nun einer zu viel.

Die Nationalbank erwartete vom Schulratspräsidenten, Bernoulli zu veranlassen,

„von derartigen, einem Funktionär der Eidgenössischen Technischen Hochschule schlecht anstehenden Verunglimpfungen, die mit einer sachlichen Kritik nichts zu tun haben, Umgang zu nehmen, falls er seine Lehrtätigkeit am Eidg. Polytechnikum fortzusetzen gedenkt.“

Der Schulratspräsident beantwortete den Brief am 29. November 1938 mit Hinweis auf frühere Behandlungen von Beanstandungen gegen Bernoulli und stellte den Beschluss von Massnahmen an der Schulratssitzung vom 19. Dezember 1938 in Aussicht.

Bundesrat Phillip Etter, der eine Kopie des Nationalbankbriefes erhalten hatte, erachtete mit Schreiben vom 2. Dezember 1938 an den Schulratspräsidenten im Interesse des Ansehens der ETH eine entschiedene Massnahme für angezeigt.

An der Schulratssitzung vom 19. Dezember 1938 fasste der Präsident alle bisherigen Geschehnisse zu Bernoulli seit seiner Ernennung zum Privatdozenten 1912 zusammen und schloss:

„Ich habe den Eindruck, wir hätten uns Prof. Bernoulli gegenüber bisher genügend Entgegenkommen gezeigt. Der laufende Lehrauftrag geht mit Schluss dieses Semesters zu Ende. […] Sind Sie damit einverstanden, dass ich Prof. Bernoulli mitteile, es würden ihm vom Sommersemester 1939 an keine Lehraufträge mehr erteilt?“

Das eigentliche Problem war aber bekanntlich nicht die untadelige Lehrtätigkeit, sondern der Professorentitel. Solange Bernoulli rechtskräftig Titularprofessor war, konnte man ihm nicht verbieten, den Titel weiterhin zu gebrauchen. Gegen den Vorschlag, dies dem Taktgefühl von Bernoulli zu überlassen, wollte der Präsident gegebenenfalls die Bedingungen reglementarisch festsetzen, unter denen der Titel eines Professors nach dem Ausscheiden aus dem Amt weitergeführt werden durfte.

Einstweilen wurde beschlossen, Bernoulli vom Sommersemester 1939 an keine Lehraufträge mehr zu erteilen.

 

ETHBIB.Bildarchiv_Portr_16016_60871

Der Rausschmeisser: Arthur Rohn, um 1935, Präsident des Schweizerischen Schulrats (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_16016)

Der Präsident hatte mit der Mitteilung an Bernoulli zuwarten wollen bis Ende des Wintersemesters 1938/39, damit Bernoulli nicht in seinen letzten Unterrichtsstunden die Studierenden noch freiwirtschaftlich indoktrinieren konnte.

Doch der Rektor informierte die Konferenz der Architekturabteilung vorzeitig über den Schulratsbeschluss. Da man auf anständige Formen hielt und gerade deren Verletzung der Grund für die Trennung vom Titularprofessor war, kam der Präsident nicht umhin, Bernoulli die Entlassung sofort mitzuteilen, damit er sie nicht von dritter Seite erfuhr. So schrieb er denn am 23. Dezember 1938 an „Herrn Titularprofessor Bernoulli“ – denn noch galt der Titel:

„[…] Nachdem sich der Schweiz. Schulrat schon wiederholt mit Ihrer Aussentätigkeit befasst hat, und immer wieder versuchte, einen Trennungsstrich zu ziehen zwischen dem hervorragenden Fachmann der Städtebaukunst und dem Freiwirtschafter, so glaubt er jedoch heute diese Auffassung nicht weiter aufrechterhalten zu dürfen, ansonsten das Ansehen und der gute Ruf der Eidg. Technischen Hochschule leiden müsste. Der Schweiz. Schulrat hat daher in seiner letzten Sitzung beschlossen, die Ihnen auf dem Gebiete des Städtebaus erteilten Lehraufträge mit Schluss dieses Wintersemesters nicht zu erneuern.

Wir bedauern, dass unsere Hochschule infolge Ihrer Betätigung auf wirtschaftlichem Gebiete in eine Situation gelangt ist, die es ihr verunmöglicht, die Dienste eines hervorragenden Fachmannes weiter zu beanspruchen.“

 

Der Sturm

Bernoulli legte am 18. Januar 1939 gegen die Entlassung Rekurs ein beim Eidgenössische Departement des Innern, der vorgesetzten Behörde der ETH, und stellte zusätzlich am 26. Januar 1939 ein Wiedererwägungsgesuch. Beide Eingaben wurden an den Schweizerischen Schulrat weitergeleitet.

In dessen Sitzung vom 17. Februar 1938 wurde diskutiert, ob man nicht doch auf den Beschluss der Nichterneuerung des Lehrauftrags für Bernoulli zurückkommen solle, „da es sich bei ihm immerhin um einen angesehenen Fachmann handelt.” Aber weil Bernoulli als „nicht verbesserungsfähig“ eingeschätzt wurde, hielt der Schulrat an seinem früheren Beschluss fest.

Überdies wurde das ETH Reglement in einem Entwurf zuhanden des Bundesrates ergänzt um den Zusatz:

„Mit dem endgültigen Ausscheiden eines Titularprofessors aus der Lehrerschaft erlischt das Recht zur Führung des Titels eines Professors der ETH.“

Der Bundesrat genehmigte die Änderung am 27. März 1939.

Der Schulratspräsident setzte Bernoulli davon am 29. März 1939 in Kenntnis::

„Nachdem Sie mit Ende des Wintersemesters 1938/39, d.h. mit Ende März des Jahres, endgültig aus der Lehrerschaft der ETH ausscheiden, erlischt somit gleichzeitig Ihr bisheriges Recht zur Führung des Titels eines Professors der ETH (Titularprofessor)“.

 

1939_grüne Kundgebung - Kopie

Flugblatt Öffentliche Kundgebung zum „Fall Bernoulli“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv 1939, SR3/220.0)

Bernoulli, seit der Weihnachtsbescherung ungewohnt schweigsam gewesen in der Öffentlichkeit, kannte nun kein Halten mehr. Er mobilisierte die Presse, ein Sturmwind rauschte durch den linken und rechten Blätterwald. Sogar das Journal Suisse d’Egypte et du Proche Orient in Alexandria berichtete.

Dutzende besorgte Bürger schrieben dem Schulratspräsidenten. Schweizer Lehrkräfte reichten eine Eingabe mit 760 Unterschriften für die Meinungsäusserungsfreiheit ein. Die sozialistische Studentengruppe Zürich verteilte Flugblätter zur Lehr- und Lernfreiheit. Die Tatgemeinschaft der Zürcher Jugend stellte dem Schulratspräsidenten Fragen. Der Bund Schweizer Architekten veranstaltete eine Generalversammlung zugunsten „des führenden schweizerischen Fachmanns des Städtebaus“ und verabschiedete eine Resolution gegen „eine Schädigung der baulichen Kultur unseres Landes“. Der Freiwirtschaftsbund organisierte eine öffentliche Informationsveranstaltung mit Bernoulli und verlangte eine Aussprache beim Schulratspräsidenten. Beide eidgenössischen Räte debattierten über Interpellationen der Sozialdemokratie und der Richtliniengesellschaft.

Der Schulrat beantwortete alle Schreiben ausführlich, erteilte mündliche Auskünfte, empfing Delegationen, erklärte, dass Bernoulli nicht wegen seines freiwirtschaftlichen Engagements freigestellt worden sei, sondern weil er die Grenzen des Anstandes überschritten und direkt oder indirekt zum Mord am Direktionspräsidenten der Nationalbank aufgefordert habe. Er beriet in mehreren Sitzungen, blieb aber bei den einmal gefällten Beschlüssen.

Emanuel Kupferblech reagierte mit Gedichten:

An die Schweizer Lehrerschaft

Bei uns und nicht in Afrika

Ist etwas Schreckliches passiert:

Es hat ein Professor ETH

Die ganze Bevölkerung echauffiert.

(Sie trottet sonst blind am Göppel):

‚Comment on pille un peuple.’

[…]

Es ist ja alles gut gemeint,

Doch hat es unser Spiel gestört.

Schon hat der Pöbel leis gegreint.

In unseren Schulanstalten

Hat man das Maul zu halten.

(Freiwirtschaftliche Zeitung, 15. Juli 1939)

 

Titeltrauer

Am Morgarten

Sie haben mich schmählich hinausgesetzt,

Das kostet mich einige Mittel,

Und was mich vielleicht noch am meisten verletzt,

Sie verweigerten mir nun auch den Titel.

[…]

(Freiwirtschaftliche Zeitung, Sonderbeilage zum Fall Bernoulli, 27. Mai 1939)

Bernoulli blieben die „Mittel“ aus seiner Anstellung als Zeichenlehrer an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel, die er seit 1930 innehatte. Ab 1941 leitete er eine neue freiwirtschaftliche Zeitschrift. Bei Kriegsende war er ein gefragter Berater für den Wiederaufbau zerstörter Städte in Europa. 1947-1951 sass er für den Landesring der Unabhängigen im Nationalrat.

1947 verlieh ihm die Universität Basel die Ehrendoktorwürde. Ein Trostpflaster für den Geehrten, denn in der Laudatio hiess es:

„der […] die künstlerischen, technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Städtebaus erforscht […] und an der obersten technischen Anstalt unseres Landes unseren jungen Architekten mit höchstem Erfolg vermittelt hat […].“ (Schmid 1974, S. 47-48)

Treibende Kraft dahinter war Joseph Gantner, Professor für Kunstgeschichte. Er war mit Bernoulli befreundet und hatte als Privatdozent der Universität Zürich 1933-1938 die Geschehnisse aus der Nähe mitverfolgt.

1955 rüstete sich die ETH zum 100 Jahr-Jubiläum. Bildnisse aller bisherigen Dozenten sollten die Gänge des Hauptgebäudes zieren. Das vorhandene Bildmaterial war lückenhaft. Der Direktor der ETH-Bibliothek nahm sich die Mühe, statt mit einem Rundschreiben in persönlich gehaltenen Briefen die noch lebenden Dozenten um Fotos zu bitten. Er war bis 1947 Direktor der Universitätsbibliothek Basel gewesen und daher wohl informiert über die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Bernoulli. Jemanden aus der alten Heimat anzuschreiben, dürfte ihm zudem eine besondere Freude gewesen sein. Leider ist kein Durchschlag des Bittbriefes an den Architekten erhalten.

Bernoulli bedankte sich am 30. Juni 1955 für die freundliche Aufforderung, spendierte fünf Bilder (darunter das hier veröffentlichte von 1928) und für den Bestand der ETH-Bibliothek seinen Irrgarten des Geldes von 1935, „eine meiner nicht fachlichen Schriften […] in der Annahme, dass die fachlichen Veröffentlichungen auf Ihren Regalen stehen.“ In der Mitte des Briefes – als Architekt hatte man schliesslich ein Auge für den richtigen Platz eines Blickfangs – stand folgender Hinweis:

„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass mir damals, vom Präsidenten des Schulrats, Herrrn Dr. Rohn, die Führung des Professorentitels entzogen worden ist – umsomehr lege ich wert da rauf, dass ich als Dr. h.c. (der Basler Universität) bezeichnet werde.“

1955_Hs_671_1 - Kopie

Brief von Hans Bernoulli an den Direktor der ETH-Bibliothek, 30. Juni 1955 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 671:1)

Hinweise

Die Diskussionen des Schulrats zu Bernoulli 1912 bis 1939 sind in Schulratsprotokolle online nachzulesen. Weitere Unterlagen können im Hochschularchiv ETHZ  bestellt und eingesehen werden.

-Dr.h.c. Hans Bernoulli zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am 17. Februar 1951 gewidmet von seinen Freunden, Bern 1951.

-Werner Schmid: Hans Bernoulli: Städebauer, Politiker, Weltbürger, Schaffhausen 1974.

-Karl und Maya Nägelin-Gschwind: Hans Bernoulli, Architekt und Städtebauer, Basel/Boston/Berlin 1995.

-Laufendes Forschungsprojekt und geplante Publikation zu Hans Bernoulli am Institut für Geschichte und Theorie der ETH gta.

The post Freigestellter Freigeist – Hans Bernoulli zum 140. Geburtstag appeared first on ETHeritage.

ETH-Professor in den Fängen der Gestapo

$
0
0

Im Januar 1939 erhält die ETH Zürich von ETH-Professor Heinz Hopf einen in Karlsruhe aufgesetzten Brief. Trotz seines unscheinbaren Inhalts löst das Schreiben beim Empfänger besorgte Hektik aus.

An das Rektorat der Eidgen. Technischen Hochschule

Da ich zu meinem Bedauern meine Vorlesungen nach den Ferien nicht pünktlich beginnen konnte und auch jetzt voraussichtlich noch einige Zeit nicht werde nach Zürich kommen können, bitte ich für meine beiden Vorlesungen vorläufig eine Vertretung durch einen der Kollegen oder durch den Assistenten des Mathematischen Seminars einzurichten.

Hochachtungsvoll

Prof. Dr. H. Hopf

 

Hopf an ETH, 10.1.1939

Brief Heinz Hopfs an das Rektorat der ETH Zürich vom 10.1.1939 mit Randnotizen des Präsidenten des Schweizerischen Schulrats (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1939, 221.2, Nr. 102).

 

Das Schreiben enthält keinerlei Erklärung für das Fernbleiben des Mathematikers. Diese Tatsache alleine erklärt jedoch noch nicht, warum der Präsident des Schweizerischen Schulrats das Schreiben umgehend mit dem Vermerk, „Ist etwas bekannt, ob politische Schwierigkeiten die Rückkehr von Prof. Hopf verhindern[?]“, an den Vorstand der Abteilung IX (Mathematik und Physik) weiterleitet. Er bittet gar gleichentags das Eidgenössische Politische Departement abzuklären, „ob Herr Prof. Dr. Hopf in der Tat verhaftet worden“ sei. Auch die Behörden in Bern nehmen die Sache ernst und erkundigen sich postwendend bei der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin und beim Schweizerischen Konsulat in Mannheim.

Dass die Sorge durchaus begründet ist, zeigt ein zweiter Brief Hopfs an die ETH Zürich vom 20. Januar:

Sehr verehrter Präsident!

 Ich muss Ihnen die peinliche Mitteilung machen, dass ich mich – ebenso wie meine Frau – in Untersuchungshaft befinde. Wie lange diese dauern und was weiter erfolgen wird, weiss ich noch nicht. […]

 

1939-01-16_Hopf_an_ETH

Brief Heinz Hopfs an den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats vom 15.1.1939 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1939, 221.2, Nr. 253).

 

Die Vorgeschichte

Werfen wir einen Blick zurück: Heinz Hopf reist über die Feiertage 1938/1939 zu seinen Eltern von Zürich nach Breslau. Hopfs Vater, Wilhelm, 1895 vom Judentum zum christlich-evangelischen Glauben konvertiert, gilt nach den Rassenreinheitsgesetzen des Dritten Reiches als Jude. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 sind die Lebensumstände des betagten Patrioten zunehmend schwieriger geworden. Trotzdem weigert er sich beharrlich, Deutschland zu verlassen. Nach der Reichspogromnacht vom November 1938 ist Heinz Hopf nicht länger bereit, dem Schicksal seines Vaters untätig zuzuschauen. Der Mathematiker erwirkt bei den Schweizer Behörden eine Einreise- und Aufenthaltsbewilligung für seinen Vater. Von seiner Absicht, den Vater in die Schweiz zu holen, unterrichtet Heinz Hopf auch Schulratspräsident Rohn (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1938, 221.2, Nr. 253):

[] seit den neuesten antisemitischen Exzessen in Deutschland halten meine Frau und ich es für unsere absolute Pflicht, alles, was in unseren Kräften steht, zu tun, um meine Eltern zur Annahme dieses Vorschlages zu bewegen []

Den Besuch bei den Eltern in Deutschland möchte Heinz Hopf dazu nutzen, um deren Emigration vorzubereiten.

 

Verhaftung und Gefängnisaufenthalt

Auf der Heimreise nach Zürich beabsichtigt das Ehepaar Hopf sich mit Emmy Ettlinger zu treffen. Als Heinz und Anja Hopf am 9. Januar am Karlsruher Bahnhof eintreffen, werden sie jedoch zusammen mit Frau Ettlinger und deren Tochter von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen. Erkundigungen der Schweizerischen Gesandtschaft in Bern ergeben, dass Anja Hopf vorgeworfen wird, ein Brillanthalsband entgegengenommen haben, um es in der Schweiz einem jüdischen Studenten zu übergeben. Damit hätten sie gegen das per 1. Januar 1939 in Kraft getretene Devisengesetz verstossen. Anja und Heinz Hopf werden am 28. Januar 1939 gegen Zahlung einer Geldstrafe von je RM 3000.- freigelassen, was ungefähr der Hälfte von Heinz Hopfs Jahreslohn entspricht.

Vergebliche Mühe

Die Reise und mit ihr die Strapazen und Ängste im Zusammenhang mit der Inhaftierung sind letztlich vergebens. Heinz Hopfs Versuche, seinen Vater in die Schweiz zu holen, verzögern sich mehrmals und im April 1939 muss er der Schweizerischen Fremdenpolizei resigniert mitteilen, dass eine Übersiedlung wegen des schlechten Gesundheitszustands seines Vaters nicht mehr infrage komme. Wilhelm Hopf stirbt 1942 in Breslau.

 

Literatur:

Urs Stammbach. Ein Zwischenfall, dem Heinz Hopf 1939 in Karlsruhe ausgesetzt war. In: Mathematische Semesterberichte (2009) 56. S. 233-250. DOI: 10.1007/s00591-009-0058-6.

The post ETH-Professor in den Fängen der Gestapo appeared first on ETHeritage.

Zwischen Antisemitismus und Hilfsbereitschaft: Die ETH Zürich und die studentischen Flüchtlinge 1933-45

$
0
0

Jetzt wurde es eng für Rudi Borth. Eben erst hatte der 27- jährige Deutsche sein ETH-Diplom als Chemiker erhalten. Und nun erreichten ihn gleich zwei Hiobsbotschaften: Das Aufgebot zur Kriegsdienstleistung in Nazi-Deutschland und fast gleichzeitig die Nachricht, dass seiner Mutter als „Halbjüdin“ die Deportation von Köln nach Polen drohte. Die Fremdenpolizei hatte Borth nach dem Studienabschluss nur deshalb weiterhin in Zürich geduldet, weil er sein Ehrenwort gegeben hatte, sich einem Stellungsbefehl aus Deutschland nicht zu entziehen. Borth brach nun schweren Herzens dieses Ehrenwort und stellte im November 1941 als deutscher Militärdienstverweigerer offiziell den Antrag auf Asyl in der Schweiz. Für ein Regime, das seine Mutter deportieren wolle und ihn als „Vierteljuden“ diskriminiere, könne er unmöglich in den Krieg ziehen. Die Fremdenpolizei erklärte Borth daraufhin zum unerwünschten Ausländer und erwog ernsthaft seine Auslieferung an die Nazi-Behörden. Borth wurde 1942 verhaftet, in der Strafanwalt Witzwil interniert und musste seine Doktorarbeit abbrechen.

Borth_Labor_Port

Rudi Borth als Chemie-Student im Labor, zwischen 1937 und 1941
(ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Port. 14352 Albumfoto Nr. 65)

Auch die mehrmaligen Interventionen des ETH-Rektors Walter Saxer (1896-1974) bei der Fremdenpolizei und sogar direkt bei Bundesrat Eduard von Steiger (1881-1962) waren erfolglos gewesen. Die Fremdenpolizei warf Borth vor, einen „unerfreulichen“ und „opportunistischen“ Charakter zu besitzen und seinem „Heimatstaat die Treue nicht zu wahren“. Rektor Saxer hingegen hatte persönlich vollstes Verständnis für Borths Militärdienstverweigerung: „Ich kann es mit der ganzen Auffassung über Humanismus nicht vereinbaren, dass auch durch die Schweiz als Staat solche individuellen Konflikte nicht mehr anerkannt werden sollen.“

Rudi Borth war einer von 443 Ausländern, die 1939 an der ETH studierten. Bis zum Kriegsende sollte die Zahl der ausländischen Studierenden auf 342 sinken, was einem Ausländeranteil von 11 % entsprach, ein historischer Tiefstand.

Es ist heute unmöglich abzuschätzen, wie viele Studierende mit jüdischem Hintergrund an der ETH studierten, da die ETH bei der Immatrikulation die Konfession oder „Rasse“ ihrer Studierenden nicht abfragte. In den Akten des Schulrates ist fallweise die Rede von „jüdischer Abstammung“ oder „jüdischer Religion“, doch eine systematische Erfassung blieb aus.

Der Vorgänger Saxers im Amt des ETH-Rektors, Michel Plancherel (1885-1967), schätzte 1933, dass unter den im Frühling neu immatrikulierten Studierenden sowie unter Studienbewerbern überdurchschnittlich viele jüdische Studierende seien. Doch verliessen vermutlich auch viele jüdische Studierende die ETH, um nach Amerika oder Palästina auszuwandern wie z.B. Hans Samelson, Siegfried Nussenbaum oder die Assistenten Georg Rosenkranz, Moses Goldberg und Leo Sternbach.

Bereits 1932 hatten (anonyme) Schweizer Studenten und Assistenten die ETH-Leitung bei der Fremdenpolizei denunziert und ihr die Bevorzugung von Ausländern bei der Vergabe von Assistentenstellen vorgeworfen. 1934 kanalisierte die Freisinnige Partei des Kantons Zürich ähnliche Vorwürfe an die Hochschulleitung. Im selben Jahr erschien in der rechtsextremen Tageszeitung „Die Front“ ein antisemitisch aufgeladener Artikel zur angeblichen „Verjudung“ der Assistenten an der ETH. Der Schulrat wies diese Kritik scharf zurück und rechnete vor, dass gerade einmal 17 von 113 Assistenten keine Schweizer Staatsbürger seien und der Anteil jüdischer Assistenten nochmals niedriger liege.

Front_zugeschnitten

Ausschnitt aus dem Zeitungsartikel „Ist unsere Eidgen. Techn. Hochschule ebenfalls verjudet?“ aus der in Zürich erschienenen Zeitung „Die Front“, 17.8.1934, S. 2 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3 1934, Nr. 3425, Reg. 200)Bibliothek, Hochschularchiv, SR 3, 1934, Nr. 3425, Reg.

Der Präsident des Schweizerischen Schulrates, ETH-Professor Arthur Rohn (1878-1956) betonte in den 1930er Jahren wiederholt, er wolle eine “jüdische Überfremdung” der ETH unter allenUmständen vermeiden um der Entstehung einer “Judenfrage” entgegen zu wirken – eine Haltung, die als spezifisch schweizerische Form des Antisemitismus eingestuft werden kann. Rohn stellte sich aber zumindest nicht absolut gegen die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen, doch wollte er nur gerade „besonders tüchtige“ und „hervorragende“ Kandidaten „aus humanitären Gründen“ aufnehmen.

Im Frühling 1938 war Rohn zu Ohren gekommen, dass Schweizer Vertretungen in Berlin und Wien mehreren Studienbewerbern das Einreisevisum für die Schweiz verweigert hatten mit der Begründung, die ETH sei überfüllt. Rohn protestierte zwar gegen diese Einmischung des Chefs der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund (1888-1961), in den Zulassungsprozess der ETH, doch blieb dies folgenlos. Bei zwei jüdischen Bewerbern, die nachweislich in dieser Zeit vom Studium an der ETH abgewiesen worden waren, gibt es Hinweise darauf, dass sie von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Andere Mitglieder des Schulrates, allen voran der ehemalige Berner FDP-Regierungsrat Leo Merz (1869-1952), zeigten offen ihre Unterstützung für die Flüchtlinge und kritisierten die Schweizer Flüchtlingspolitik, die die Judenverfolgung unterstütze und die Verfolger schütze.

Der Schulrat half in den 1930er und 1940er Jahren zahlreichen ausländischen (auch jüdischen) Studierenden mit Stipendien oder zinslosen Darlehen. Ab 1943 sorgte Prof. C. G. Jung dafür, dass die private „Hilfsaktion für kriegsnotleidende Studenten“ regelmässig mit ETH-Geldern unterstützt wurde. Besonders aktiv engagierte sich Prof. Leopold Ruzicka (1887-1976) für Studierende und Assistierende, die in der Schweiz Zuflucht gesucht hatten.

Nicht nur der Schulrat, auch der VSETH (Verband der Studierenden) schwankte zwischen Fremdenfeindlichkeit und Hilfsbereitschaft. So verkaufte der VSETH zwar Briefmarken und Agenden zugunsten der Hilfsaktion, machte sich aber 1940 für die Einführung von höheren Studiengebühren für Ausländer stark und spendete 1944 den Gewinn aus dem Polyball explizit lieber den „eigenen Landsleuten“ als den ausländischen Flüchtlingen.

Der Schulrat lehnte den Antrag des VSETH auf Einführung höherer Studiengebühren für Ausländer strikt ab. Da Flüchtlinge in der Schweiz nicht arbeiten durften, hätte eine Gebührenerhöhung bei vielen automatisch zum Studienabbruch führen müssen. Der Schulrat betonte, dass ETH-Absolventen die beste Werbung für die Schweizer Exportwirtschaft im Ausland seien.

Anderman_zugeschnitten

Ausschnitt aus dem Matura-Zeugnis des Staatsgymnasiums Lwow für Josef Anderman,
der 1939-1940 an der ETH studierte, Lwow 1938

(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK 1/1/23548)

Und wie erging es Rudi Borth? Er verlor 1943 die deutsche Staatsbürgerschaft und blieb als Staatenloser in verschiedenen Lagern und Heimen in der Schweiz interniert. Mit Unterstützung von Rektor Saxer und seinem Doktorvater Ruzicka konnte er im Herbst 1944 endlich seine Forschungsarbeit im Labor für organische Chemie wieder aufnehmen. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Dissertation 1947 machte er Karriere in der endokrinologischen Forschung an der Universitätsklinik in Genf und später in Kanada.

Quellen und Literatur
Die online zugänglichen Protokolle und Akten des Schweizerischen Schulrates im Hochschularchiv der ETH Zürich bieten Einblick in die Tätigkeit der Hochschulleitung. Die Matrikel der Studierenden und Doktorierenden sind nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist einsehbar.

Rudi Borth: [Kapitel ohne Titel]: In: Zur Geschichte der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. 256 Biographien und Berichte, hrsg. v. Gerhard Bettendorf. Berlin 1995, S. 57-61.

Ernst D. Gern: „Memoiren“. In: Andreas Heusler / Andrea Sinn (Hrsg.): Die Erfahrung des Exils. Vertreibung, Emigration und Neuanfang. München 2016, S. 296-304.

David Gugerli: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855-2005. Zürich 2005.

Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2001.

The post Zwischen Antisemitismus und Hilfsbereitschaft: Die ETH Zürich und die studentischen Flüchtlinge 1933-45 appeared first on ETHeritage.


Zum 200. Geburtstag des Astronomen Rudolf Wolf: „Ich kann diese Unsicherheit nicht länger ertragen“

$
0
0

Endlich eine Gelegenheit zur Rückkehr in die geliebte Heimatstadt mit Aussicht auf eine prestigeträchtige Berufung an eine Hochschule! 1855 wurde in Zürich das Eidgenössische Polytechnikum eröffnet. Zwar hatte sich der am 7. Juli 1816 in der Nähe von Zürich geborene Mathematiker und Astronom Rudolf Wolf in Bern wissenschaftlich etabliert, hatte ab 1847 eine Professur an der Universität Bern und war Direktor der dortigen Sternwarte. Dennoch fehlte ihm Zürich und die Aussicht, an der einzigen gesamtschweizerischen Hochschule eine Professur zu erhalten, war sehr verlockend.

Fachlich waren Wolfs Leistungen unbestritten. Eher zufällig hatte Wolf 1847 das Phänomen der Sonnenflecken zu beobachten und detailliert zu dokumentieren begonnen. Dabei stellte er Parallelen zwischen dem periodischen Auftreten von Sonnenflecken und den Schwankungen im Magnetfeld der Erde fest. Spätestens als er eine Methode zur Erfassung der Sonnenaktivität einführte, war er als Pionier der noch jungen Astrophysik anerkannt.

Porträt, stehend neben einer Säule

Porträt von Johann Rudolf Wolf von 1886, DOI: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000046157

Mit den Gründervätern des Eidgenössischen Polytechnikums war Wolf hervorragend vernetzt. Josef Wolfgang von Deschwanden, der als Mitglied der vorberatenden Kommission und erster Direktor des Polytechnikums massgeblich am Aufbau der Schule beteiligt war, kannte er aus seiner Studienzeit an der Universität Zürich. Allerdings war Astronomie ursprünglich im Lehrplan des Polytechnikums nicht vorgesehen. Damit waren Wolfs Chancen auf eine Berufung trotz Renommee und Beziehungen lange Zeit unklar. Dies mag einer der Gründe für Rudolf Wolfs Zögern gewesen sein, sich aktiv um eine Professur zu bewerben. Wie seine Schwester Elisabeth im Januar 1855 an Johannes Wild schrieb, wartete Wolf lieber ab und liess seine Freunde (und seine Schwester) für ihn die Werbetrommel rühren:

Sie fragen, ob sich Rudolf nie melden würde; ich glaube nicht, – er hat sich erst bestimmt dahin ausgesprochen, wie er, – wie es auch kommen möge, sich viel mehr Glück für seine Zukunft verspreche, wenn er andere, seine Freunde, für ihn reden lasse, als wenn er sich selbst förmlich dafür bewerben würde. Man kenne ja seine Wünsche seit langem her genügsam, – wolle man ihn, werde man ihn schon finden, und dann könne er mit Freuden folgen.

Elisabeth Wolf an Johannes Wild, 24.1.1855 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 368c:137)

Ein schwerwiegendes Hindernis mochte auch Bernhard Studer gewesen sein, der einerseits in Bern Wolfs Vorgesetzter war und zugleich als einflussreiches Mitglied des Schweizerischen Schulrats über Berufungen an das Polytechnikum mitentschied. Im Oktober 1854 sprach Studer das Thema direkt an: „[…] man denkt auch an Sie Herr Wolf, aber Sie werden doch nicht von Bern weggehen wollen?“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 368c:133 . Elisabeth Wolf an Johannes Wild, 8.10.1854).

Studers Doppelrolle und die Ungewissheit über die Errichtung eines Lehrstuhls für Astronomie alleine vermögen Wolf zauderndes Verhalten nicht vollumfänglich zu erklären. Noch wenige Wochen vor seiner Berufung, als er bereits mit grosser Sicherheit wusste, dass er immerhin für ein Teilpensum ans Polytechnikum berufen werden würde, richtete er einen verzweifelten Hilferuf an seinen Freund Johannes Wild. Nach mehrseitigen Erläuterungen von pro und contra der Berner und der Zürcher Lösung schrieb er:

Du siehst, dass nach beiden Seiten hin viele Gewichte auf der Waage liegen auf der einen Seite vorzüglich das rein menschliche, gemüthliche, familiäre und eine Menge von Hoffnungen, – auf der andern Seite das durch öffentliche Wirksamkeit bereits erworbene.

Ich bin wirklich beinahe gegenwärtig zu befangen, um selbst nachzusehen, wie der Zeiger an der Waage steht – siehe Du zu, ich schenke Dir volles Zutrauen, und schreibe mir, was Du gesehen hast. Du hast noch den grossen Vortheil, dass Du den Hoffnungen ein richtigeres Gewicht zuschreiben kannst, als ich es im Stande bin. Also schreibe bald, sogleich, – ich kann diese Unsicherheit nicht länger ertragen, – es muss jetzt einmal ein definitiver Entscheid gefasst werden.

Hs_368a-62_1855-04-06_Wolf-Wild01_kl

Rudolf Wolf an Johannes Wild, 6.4.1855 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 368a:62)

So handelt es sich bei Wolf vermutlich um eine generelle Unfähigkeit, zwischen Herz resp. hoffnungsfrohen jedoch unsicheren wissenschaftlichen Aussichten in Zürich einerseits und der Gewissheit einer etablierten Stellung an der Berner Hochschule andererseits zu wählen. Schlussendlich vermochte sich Rudolf Wolf im Juni 1855 doch noch dazu durchzuringen, die Berufung auf den Lehrstuhl für Astronomie anzunehmen.

Bereut hat Wolf seine Entscheidung wohl nie. 1864 gründete er die von Gottfried Semper erbaute Eidgenössische Sternwarte und wurde ihr erster Direktor. Zudem begründete er die, ein Jahrhundert währende, führende Stellung der ETH Zürich in der Sonnenfleckenforschung. Nicht zuletzt – zumindest aus Sicht eines Mitarbeiters der ETH-Bibliothek – wurde Wolf im Oktober 1855 zum Bibliothekar des Polytechnikums ernannt und war damit der erste Direktor der heutigen ETH-Bibliothek.

Literatur:

Jaeggli, Alvin Eugen. Die Berufung des Astronomen Johann Rudolf Wolf nach Zürich 1855. zumeist auf Grund von bisher unveröffentlichten Dokumenten und Familienbriefen in der Handschriften-Abteilung der ETH-Bibliothek. Zürich 1968. http://dx.doi.org/10.3929/ethz-a-000196305

Lutstorf, Heinz Theo. Professor Rudolf Wolf und seine Zeit, 1816-1893. Zürich, 1993. http://dx.doi.org/10.3929/ethz-a-000913344

Blättern & Browsen: 150 Jahre ETH-Bibliothek : Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Stadthaus Zürich, 23. September bis 11. November 2005 / Hrsg.: ETH-Bibliothek Zürich. Zürich, 2005.

The post Zum 200. Geburtstag des Astronomen Rudolf Wolf: „Ich kann diese Unsicherheit nicht länger ertragen“ appeared first on ETHeritage.

Wie Gottfried Semper Schweizer wurde

$
0
0

Gottfried Semper (1803-1879), der wohl berühmteste Architekt des 19. Jahrhunderts und Erbauer des Polytechnikums in Zürich, war schon mit 31 Jahren (1834) Professor der Baukunst an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Dresden und Direktor der dortigen Bauschule. Somit wäre dem Familienvater und erfolgreichen Architekten eine glanzvolle und sicherlich ruhigere Laufbahn beschieden gewesen, hätte er sich nicht 1849 am Dresdner Maiaufstand gegen die preussische Regierung beteiligt. Semper baute für die Aufständischen eine solide Barrikade, die dem Sturm der preussischen Truppen standhalten sollte. Dieses fast nicht einzunehmende Bollwerk wurde Gottfried Semper von der sächsischen Regierung zur Last gelegt. Er wurde wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstands steckbrieflich ausgeschrieben und musste aus Dresden fliehen.

Semper gelang die Flucht nach Paris, wo ihn ärmliche Verhältnisse erwarteten, dann nach London. In der Themsestadt erhielt er erst 1852 einen Lehrauftrag am Departement of Practical Art der School of Designs. Ein Broterwerb war somit gefunden, um sich und seine Familie durchzubringen. Sein Herzenswunsch jedoch, bauen zu können, war in weite Ferne gerückt.

Da erreichte ihn im Herbst 1854 der Ruf nach Zürich ans neu gegründete Polytechnikum. Im Februar 1855 wird er zum Professor auf Lebenszeit ernannt und bleibt bis zu seinem Weggang 1871 erster Direktor der hiesigen Bauschule resp. Architekturabteilung. Nicht nur diese lukrative Anstellung auf Lebenszeit als Professor, sondern auch der Bauboom im jungen Bundesstaat dürften den Baukünstler Semper dazu bewogen haben, in die Schweiz zu ziehen. Semper konnte damit rechnen, in Zürich den prestigeträchtigen Auftrag für den Bau des Polytechnikums zu erhalten.

Zürich, ETH Zürich, Hauptgebäude (HG), Fassade West

Sempers Polytechnikum, erbaut 1860 -1864; Aufnahme der Westfassade von 1896 (http://doi.org/10.3932/ethz-a-000013899).

Zürich, ETH Zürich, Eidgenössische Sternwarte

Sempers Sternwarte, Schmelzbergstrasse, erbaut 1862-1864; Aufnahme 1889 (http://doi.org/10.3932/ethz-a-000012968).

Erstaunlicherweise hat Gottfried Semper weder mit der Errichtung des Polytechnikums, der Sternwarte noch des Stadthauses in Winterthur, (um seine drei wichtigsten Bauten in der Schweiz zu nennen), sondern mit der Instandstellung des Kirchturms in Affoltern am Albis eines seiner für ihn persönlich wertvollsten Bauwerke erschaffen. Nicht architektonisch gesehen, sondern biographisch, sollte sich doch diese kleine Auftragsarbeit für ihn mehr als lohnen.

 

„Mit Kirchturm zum Bürgerrecht“

Im Juli 1860 hatte Semper einen Brief von Pfarrer Denzler aus Affoltern am Albis erhalten. Der emsige Pfarrer bat den Baukünstler um einen Plan für eine solide Bedachung des reparaturbedürftigen Kirchturms von Affoltern, denn die Gemeinde hatte ein neues Geläut erhalten. Semper sagte zu, wohl auch, weil seinem Sohn Manfred, der am Polytechnikum Architektur studierte, noch die Baupraxis fehlte.

Semper entwarf einen Turm mit einem treppenförmigen Giebel, den Manfred Semper als Bauleiter nach den Plänen seines Vaters ausführte. Rund 15 Monate später, am 20. Oktober 1861, konnte der neue Kirchturm zur Freude der Affolterer eingeweiht werden.

Kirchturm_Affoltern_2016-2

Kirchturm Affoltern am Albis, Juni 2016 (Aufnahme Monica Bussmann)

Und wie bedankte sich die Gemeinde, die keinen Sold zahlen konnte, bei dem berühmten Architekten? Lesen Sie selbst:

Sehr geehrter Herr Professor!

Durch heute gefaßten Gemeindebeschluß

wurde Ihnen durch Schenkung das

Bürgerrecht hiesiger Gemeinde ertheilt.

 

Indem wir Ihnen dieses vorläufig

zur Kenntniß bringen, werden wir

die Bürgerrechtsurkunde Ihnen zusenden,

sobald die Rekursfrist abgelaufen

und der Beschluß in Kraft getreten ist.

 

Genehmigen Sie die Versicherung

unserer Hochachtung

namens des Gemeinderathes:

Affoltern am/Al.

den 10 ten Nov: 1861.

 

Der Präsident H. Weiss

Der Gemeindeschreiber

G. Schneebeli

BriefGemeindeAffoltern_2

Brief der Einbürgerungsbestätigung der Gemeinde Affoltern vom 10.11.1861 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Akz. 2016-18)

Semper, der in Sachen Salär nicht bescheidene Forderungen stellte, erhielt mit der Schenkung des Bürgerrechts eine weit wertvollere Entschädigung als manches noch so hohe Honorar. Denn mit diesem Bürgerrecht konnte er, der seit 1849 Flüchtling und steckbrieflich gesucht war, endlich wieder sicher in sein geliebtes Deutschland reisen. Die Aufhebung seines Steckbriefes durch die sächsische Regierung erfolgte dann im Mai 1863.

Untenstehend ein Beispiel eines Reisepasses von Gottfried Semper, ausgestellt vom Kanton Zürich aus dem Jahr 1866, unterschrieben vom ersten Staatsschreiber (und Schriftsteller) Gottfried Keller:

Hs_09_4_Reisepass_Semper_2

Reisepass Gottfried Sempers nach Deutschland vom 16. Nov. 1866 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 09: 4)

Im Dezember 1861 bestätigte die Zürcher Kantonsregierung Gottfried Sempers Bürgerrecht zu Affoltern am Albis. Der Kanton Zürich musste nolens volens nachziehen und Semper auch das „Kantonsbürgerrecht“ verleihen und zwar für seine besonderen Verdienste um den Bau des Polytechnikums, denn im Herbst 1860 hatte man endlich nach zweijährigem Auswahlverfahren und manchen Misstönen mit dem Bau des Poly begonnen. Im Sommersemester 1863 fanden die ersten Vorlesungen im neuen Hauptgebäude statt. Offiziell wurde das Polytechnikum vor 150 Jahren am 24. August 1866 dem Bundesrat übergeben.

Vom Semper-Bau ist heute nicht mehr viel übrig. Zum Glück sind die prominente Westfassade auf der Seite der Polyterrasse, die Nordfassade mit den schwarzen Sgraffito-Zeichnungen sowie Teile der Südfassade Richtung Universität und natürlich die Semper-Aula erhalten geblieben.

 

Quellen:

Ute Kröger: Gottfried Semper. Seine Zürcher Jahre 1855-1871, Zürich 2015. Darin bes. das Kapitel „Mit Kirchturm zum Bürgerrecht“, S. 57-59.

Uta Hassler / Korbinian Kainz: Die polytechnische Welt. Wissensordnung und Bauideal: Planmaterialien zum Zürcher Polytechnikum, Bd. I und II. München 2016.

 

The post Wie Gottfried Semper Schweizer wurde appeared first on ETHeritage.

Ein Menschenfreund mit Fragezeichen. Aurel Stodola als Ingenieur und Eugeniker

$
0
0

Manchmal lohnt es sich, ganz genau hinzusehen. Aurel Stodola (1859-1942) gilt als hervorragender Ingenieur, als Pionier der Thermodynamik und Spezialist für Dampfturbinen. In der heutigen Slowakei geboren, kam er als Student an die ETH Zürich und wirkte hier von 1902 bis 1929 als Professor für Maschinenbau. Bei den Studierenden war er als Dozent sehr beliebt. […]

The post Ein Menschenfreund mit Fragezeichen. Aurel Stodola als Ingenieur und Eugeniker appeared first on ETHeritage.

Von Studierenden für Studierende: Die Ungarn-Flüchtlinge und das Engagement ihrer Mitstudierenden an der ETH Zürich

$
0
0

Die dramatischen Ereignisse vom Herbst 1956 in Ungarn fanden auch in Zürich Widerhall. In der Bevölkerung und insbesondere in der Studentenschaft lösten sie eine beispiellose Welle der Solidarität aus. Am 29. Oktober versammelten sich um die 8‘000 Studenten und Studentinnen der beiden Zürcher Hochschulen auf dem Münsterhof und demonstrierten für den ungarischen Freiheitskampf und gegen […]

The post Von Studierenden für Studierende: Die Ungarn-Flüchtlinge und das Engagement ihrer Mitstudierenden an der ETH Zürich appeared first on ETHeritage.

Inländervorrang à la 1934: Ein Brief der Zürcher FDP an die ETH-Leitung

$
0
0

In Deutschland ist Adolf Hitler an der Macht. Die Rassenlehre hat Hochkonjunktur. Dem Zeitgeist entsprechend, grassieren in der Schweizer Bevölkerung rassisch motivierte Vorurteile – auch unter Angehörigen der ETH Zürich. Wie sehr antisemitische Tendenzen zu dieser Zeit auch in der Schweiz alltäglich sind, zeigt eine Randnotiz auf einem Schreiben an den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats […]

The post Inländervorrang à la 1934: Ein Brief der Zürcher FDP an die ETH-Leitung appeared first on ETHeritage.

Viewing all 90 articles
Browse latest View live